Besprechung vom 15.09.2024
Das Störgefühl
Annette Kehnel entdeckt die Weisheit der Todsünden in Krisenzeiten. Sie kehrt dafür in die Vergangenheit zurück, um besser für die Zukunft gewappnet zu sein.
Von Julia Voss
Die Mittelalterhistorikerin Annette Kehnel ist eine gute Erzählerin, und deshalb beginnt ihr Buch mit einer lustigen Anekdote: Als sie ihre jüngste Tochter 2023 in Kanada besucht, wo diese ein Auslandsjahr verbringt, will sie die Chance nutzen, um in die Weisheiten der Kulturen einzutauchen, die zuerst in Nordamerika heimisch waren. Kehnel stellt sich ein Programm zusammen. Sie geht ins Squamish Lil'wat Cultural Centre. Sie nimmt die Fähre von Horseshoe Bay nach Nanaimo auf Vancouver Island. Sie lässt sich in Alert Bay die Tänze, Masken, Rituale und Verbote der Kwakwaka'wakw erklären. Sie besucht eine Konferenz, organisiert von ehemaligen Schülerinnen und Schülern, die das grausame kanadische Internatssystem durchlebten, in dem Kindern indigener Volksgruppen die Traditionen ausgetrieben werden sollten. Außerdem trifft sie sich mit Kolleginnen und Kollegen der University of British Columbia.
Das Ergebnis? Ernüchterung statt Erleuchtung. Niemand glaubte, dass Kehnel weiser geworden wäre. Nichts davon ließ sich mit nach Hause nehmen. Kehnel fasst die Verwunderung, die sie in Kanada auslöste, im Buch so zusammen: "Davon, dass ihr ein bisschen trommeln lernt, mit den Bäumen redet und Süßgras flechtet, werden sich Klimawandel, Artenschwund, Müllberge in den Weltmeeren etc. nicht beeindrucken lassen." Warum, lautete die Frage vieler, "nutzt ihr nicht eure eigenen Wissensressourcen?"
Ja, warum eigentlich nicht? Das nun erscheinende Buch ist Kehnels Antwort darauf. Sie hat die abendländische Geschichte durchforstet, vor allem die weiter zurückliegenden Jahrhunderte, um vergangene Regelsysteme auf ihre Tauglichkeit hin abzuklopfen oder auch Rituale, Tabus und Traditionen. Neben den Vorschriften, die das Zusammenleben im Alltag oder in Notfällen regulierten, hat sie Mythen und Sagen gesichtet, in denen sich Menschen ihrer selbst vergewissert haben. Bei all diesen Recherchen konnte sie als ausgewiesene Kennerin aus dem Vollen schöpfen. Seit 2005 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. "Die Sieben Todsünden" heißt das Buch, das entstanden ist, im Untertitel "Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise". Es ist der Versuch, in die Vergangenheit zurückzukehren, um besser für die Zukunft gewappnet zu sein.
Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Kehnel schreibt als Historikerin und wache Beobachterin der Gegenwart, nicht als Missionarin. Sie wünscht sich weder die Vorherrschaft der Kirche zurück noch eine Kultur von Ablassbriefen oder Rosenkranzgebeten. Ihr Blick zurück in eine lebhafte Vergangenheit schließt auch die Antike ein, samt ihrer Götterwelt. Die Grenzen, schreibt Kehnel, "zwischen der Welt der antiken und jener der christlichen Philosophie sind fließend". Gleich zu Beginn geht es von Orpheus, Eurydike und den Titanen zu Evagrius Ponticus, der sich im 4. Jahrhundert in die Wüste zurückzog und als Vater der christlichen Lehre von den Todsünden gilt.
Die Todsünden strukturieren das Buch. Jedes Kapitel ist einer gewidmet, in der Reihenfolge von Völlerei, Habgier, Wollust und Trägheit hin zu Neid, Zorn und Hochmut. Es sind die Verheerungen biblischen Ausmaßes, die den Todsünden Aktualität verleihen. Wer sich die Befunde ansieht, die von den Naturwissenschaften zusammengetragen werden, könnte glauben, in einer Vision der Hildegard von Bingen gelandet zu sein. Die Äbtissin vom Rupertsberg, die im 12. Jahrhundert ein prosperierendes Kloster leitete, schrieb die berühmt gewordenen Zeilen: "Ich hörte, wie mit einem wilden Schrei die Elemente der Welt riefen: Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von Unterst zu Oberst. Wir stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach Gerechtigkeit."
Was Hildegard von Bingen in drastischen Worten beschreibt, nennt Kehnel "das Störgefühl". Menschen haben das Potential, die kosmische Ordnung aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie können die Elemente aus ihrer Bahn reißen. Diese zerstörerische Kraft ist kulturübergreifend der Stoff, aus dem die Mythen sind. "Der jüdisch christliche und der muslimische Ursprungsmythos begründet das Störgefühl", so Kehnel, "mit dem Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis. Adam und Eva und alle ihre Nachkommen verlieren damit ihren Platz im Paradies." Die Sünde ist in der Welt, als böse Mitgift.
Aber es ist nicht das Ende der Geschichte. Die Alten haben nicht die Hände in den Schoß gelegt. Im Gegenteil. Die Erkenntnis, dass Menschen gern über die Stränge schlagen und diese Laster weitreichende Folgen haben können, führte zu Gegenmaßnahmen. Kehnel schildert sie mit großer Erzähllust. Da wären zum Beispiel die Aufwandsordnungen, die "Luxuria" einschränkten, den übermäßigen Konsum. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts wurde von Hamburg bis Konstanz geregelt, wie Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen begangen werden durften. Als 1425 in Nürnberg die Familie des Bürgermeisters Hans Tucher allein für ein Leichentuch aus grünem Samt hundertvierzig Gulden ausgab, folgte die neue Bestimmung auf den Fuß. Fortan war nur noch einfacher Wollstoff erlaubt. In Grau oder Schwarz.
Oder natürlich die Fastenvorschriften. Je nach Region konnten diese zwischen 120 und 150 Tage im Jahr betreffen. Geregelt wurde insbesondere der Verzehr von Fleisch sowie von Eiern und Milchprodukten. Entscheidend war der Wechsel zwischen Überfluss und Verzicht, zwischen Alltag und Fest. Die Vergangenheit, die Kehnel mit Freude am Detail durchquert, ist kein Jammertal.
Was die Gebräuche der Vergangenheit betrifft, kann Kehnel mit vielen Überraschungen aufwarten. Im Ephesus des 2. Jahrhunderts, in der heutigen Westtürkei, wurde etwa ein Gladiatorenfriedhof entdeckt, darunter auch die Gebeine einer Frau. Sie hieß Serapias und gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit zu den kämpfenden Gladiatoren. Mit den männlichen Kollegen teilte sie, wie gentechnische Analysen zeigen, die Art der Ernährung. Alle aßen überwiegend Bohnen und Getreide und lebten vegetarisch. "Daher", so Kehnel, "rührte auch der Spitzname der Gladiatoren, hordearii, wörtlich ,Gerstenfresser'." Wer hätte gedacht, dass der ungeliebte Veggieday "Tag des Gladiators" heißen könnte?
Kehnel findet für gegenwärtige Diskussionen eine neue Sprache, die sich auf originelle Weise aus der Vergangenheit speist. Ihr Buch bespielt im besten Sinne ein eigenes Genre, in dem Historie, Essay und Erzählung aufeinandertreffen sowie Gegenwart und Vergangenheit, mitunter im abenteuerlichen Sprung. Warren Buffet, der legendäre amerikanische Investor, folgt auf den Florentiner Stadtrat des 14. Jahrhunderts. Hier wie dort wird über die Grenzen der Habgier nachgedacht und die Frage, wie für das Gemeinwohl gesorgt werden kann.
Die im Buch versammelten Beispiele sind Gegengeschichten zum Hochmut der Moderne, die nichts mehr von den Sünden wissen wollte. Private Laster hätten für die Öffentlichkeit einen großen Nutzen, argumentierte im 18. Jahrhundert etwa Bernard Mandeville. "Stolz, Luxus und Betrügerei / Muss sein, damit ein Volk gedeih'," dichtete Mandeville satirisch, aber mit Folgen. Die Vorstellung, dass Habgier oder Verschwendungssucht zum Motor einer blühenden Wirtschaft werden könnte, zog in die Ökonomie ein. "Heute, dreihundert Jahre nach Mandeville," schreibt Kehnel, "dämmert uns so ganz allmählich, dass der öffentliche Nutzen der privaten Laster uns langfristig teuer zu stehen kommt."
Wer Kehnels vorangegangenes Buch kennt, kann dieses wie eine Fortsetzung lesen. In "Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit" entfaltete sie ein fesselndes Panorama des nachhaltigen Wirtschaftens - und erhielt den NDR-Sachbuchpreis.
Zum Abschluss das Maßnahmenpaket gegen den lasterhaften Überdruss: "Empfohlen werden viel frische Luft, häufiges Baden, die Betrachtung schöner Objekte und Gespräche mit anderen, insbesondere auch mit jungen Menschen," so Kehnel. Dieses herrliche Buch eignet sich bestens für Gespräche. Und es gibt eine heitere Antwort auf die Frage, was es heißen könnte, konservativ zu sein.
Annette Kehnel: "Die sieben Todsünden - Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise". Rowohlt Verlag, 400 Seiten
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