Nobelpreis für Literatur 2022
Oktober 1963: Die 23-jährige Annie entdeckt, dass sie schwanger ist. Die Studentin aus bescheidenen Verhältnissen weiß: Wenn sie ein uneheliches Kind zur Welt bringt, wird sie alles verlieren. Das hart erkämpfte Universitätsstudium, die Hoffnung, dem engen, prekären Milieu der Eltern zu entkommen. Sie ist entschlossen, die Schwangerschaft zu beenden, aber im Frankreich der 1960er Jahre ist Abtreiben illegal, und so beginnt für die junge Frau ein Spießrutenlauf, der sie von der Praxis eines überheblichen Arztes, ins Hinterzimmer einer zweifelhaften Engelmacherin führt und schließlich in der Notaufnahme endet. Voller Scham versucht Annie, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, und begegnet dabei überall erschreckender Gleichgültigkeit.
Wie ist es, wenn man als Frau abtreiben will und es nicht darf? Mit schonungsloser Offenheit erzählt Annie Ernaux von ihrem eigenen Schwangerschaftsabbruch. Und von den Demütigungen, Verletzungen und Stigmatisierungen, die sie dabei erleiden musste - und die bis heute nachhallen.
Besprechung vom 27.11.2021
Nur keine Sentimentalitäten
Nach zwanzig Jahren erscheint "Das Ereignis" von Annie Ernaux endlich auf Deutsch, weniger aktuell ist das Abtreibungsbuch aber leider nicht geworden.
Eine Frau wird ungewollt schwanger. Sie ist dreiundzwanzig, stammt aus einer Arbeiterfamilie, lebt und studiert in Rouen, und wir schreiben das Jahr 1963. Abtreibungen sind in Frankreich per Gesetz verboten. Wer trotzdem selbst über seinen Körper und sein zukünftiges Leben bestimmt, wer sich aus welchen Gründen auch immer gegen das in ihm heranwachsende Kind entscheidet, dem droht eine Geld- oder Gefängnisstrafe. Die Frau, inzwischen längst eine berühmte Autorin zahlreicher autofiktionaler Romane, die sich als "Ethnologin ihrer selbst" bezeichnet, heißt Annie Ernaux, das Buch, das sie über ihre Abtreibung geschrieben hat und das nun auf Deutsch vorliegt, "Das Ereignis".
Vielleicht ist das Verblüffendste an dieser schmalen Erzählung, dass die Autorin keine Sekunde mit dem Gedanken spielt, dieses Kind, mit dessen Vater sie eine dahinplätschernde Fernbeziehung führt, zu bekommen. Sie malt sich nicht aus, wie es wäre, Mutter zu sein. In ihrem Tagebuch steht weder "Ich erwarte ein Kind", noch "Ich bin schwanger" "und erst recht nicht ,Schwangerschaft', auf Französisch grossesse, was wie ,grotesk' klingt. Dies hätte die Akzeptanz einer Zukunft bedeutet, die nicht eintreten würde. Es lohnt sich nicht zu benennen, was wegzumachen ich beschlossen hatte. In meinem Kalender steht ,es', ,das Ding', nur ein einziges Mal ,schwanger'." Kühl klingende Sätze, die indes nichts mit Herzlosigkeit zu tun haben, sondern Ausdruck tiefer Verzweiflung sind.
Annie Ernaux, wissenshungrig, intellektuell, ist die Erste in ihrer Familie, die studiert, sozial aufsteigt. Ihr graust vor einem stigmatisierten Leben als unverheiratete Mutter, in dem ihre geistigen Fähigkeiten verkümmern. Die Schwangerschaft trennt sie von ihren Kommilitonen, von den Frauen mit den "leeren Bäuchen". Jene, denen sie ihr Geheimnis erzählt, begegnen ihr mit voyeuristischer Neugierde. Sie betrachten Annie Ernaux, als wäre sie die Hauptdarstellerin eines Dramas mit ungewissem Ausgang. Bestürzt und fasziniert zugleich weiden sie sich an ihrem Unglück. Jean beispielsweise schlägt lachend vor, ihr gemeinsam mit Freunden eine Sonde einzuführen.
Annie Ernaux' Stil ist nüchtern, und sie erzählt so präzise, wie es ihre eigenen Erinnerungen erlauben, denen sie mit aller Kraft nachspürt. Vor schockierenden Details schreckt sie nicht zurück. Nichts liegt ihr ferner als Sentimentalität. Das Geschriebene entfaltet mitunter eine derart erschütternde Wucht, dass man zögert umzublättern, weiterzulesen. Von dem erniedrigenden Spießrutenlauf etwa auf der Suche nach jemandem, der sie von dem Fötus befreit. Statt ärztlicher Empathie dominiert im Frankreich der sechziger Jahre die Arroganz weißbekittelter Männer, die auf Frauen wie Ernaux herabblicken. Schließlich versucht sie es selbst mit dicken, metallisch blauen Stricknadeln, aber der Schmerz lässt sie rasch aufgeben.
Über Umwege gelangt sie zu einer "Engelmacherin" in Paris, die wie eine "Hexe" aussieht und den Eingriff für vierhundert Francs in ihrem Schlafzimmer vornimmt. Erst nach einem zweiten Besuch stößt sie den Fötus ab. Ernaux verliert ihn im Studentenwohnheim, wie eine Granate schießt er aus ihr heraus. "Ich sah eine kleine Babypuppe an einer rötlichen Schnur aus meiner Scheide hängen. Ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, dass ich so etwas in mir trug. Ich nahm es in eine Hand - es war seltsam schwer - und überquerte den Flur, indem ich es zwischen meinen Schenkeln hielt. Ich war ein Tier."
"Das Ereignis" ist bereits vor zwanzig Jahren in Frankreich erschienen, doch die Geschichte hat nichts an Aktualität und Brisanz eingebüßt, im Gegenteil. Ein Blick nach Texas oder Polen, wo rigide Abtreibungsgesetze den Spielraum von Frauen existenziell begrenzen, zeigt, dass der weibliche Körper noch immer durch Paragraphen zu beherrschen versucht wird. Erst Anfang Januar protestierten Tausende von Menschen in mehreren polnischen Städten gegen das Abtreibungsverbot, das einen legalen Schwangerschaftsabbruch quasi verunmöglicht - eine junge Frau war an einem septischen Schock gestorben, weil die Ärzte nach dem Verlust des Fruchtwassers erst den Tot des Fötus abwarten wollten, bevor sie ihr halfen.
Annie Ernaux, die bei dem Abgang viel Blut verliert, muss ebenfalls ins Krankenhaus, wo ihre Gebärmutter ausgeschabt wird. Die einzige Schuld, die sie je auf dieses Ereignis bezogen empfunden habe, schreibt Ernaux, sei, dass sie aus dieser Erfahrung von Leben und Tod nichts gemacht habe - eine Schuld, die sie beglichen hat. MELANIE MÜHL
Annie Ernaux: "Das Ereignis".
Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 104 S., geb.
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