Nobelpreis für Literatur 2022
Dreizehn Tage nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1986 schreibt Annie Ernaux ein kurzes, schmerzhaftes Requiem. Und lässt die Mutter als Repräsentantin einer Zeit und eines Milieus auferstehen, das auch das ihre war.
Das Leben ihrer Mutter: geboren um die Jahrhundertwende in der Normandie, Arbeiterin, dann Ladenbesitzerin, Ehefrau, zweifache Mutter, lebenslustig und offen, Körper und Geist werden später langsam durch Alzheimer zerstört. Das Ende war für die Tochter vorauszusehen, die Wirklichkeit des Todes scheint indessen kaum erträglich.
Zeit ihres Lebens kämpfte die Mutter darum, ihren sozialen Status zu erhalten, ihn vielleicht sogar zu überwinden. Erst der Tochter wird dies gelingen, eine Distanz zwischen den beiden entsteht. Auch darauf blickt Annie Ernaux zurück, voller Zärtlichkeit und Abscheu und Schuldgefühl.
Besprechung vom 17.11.2019
Ein kostbares und doch zerriebenes Menschenleben
Nach Annie Ernaux' Buch über ihren Vater erscheint jetzt auch das über ihre Mutter: "Eine Frau"
Das Buch "Eine Frau" von Annie Ernaux handelt von ihrer Mutter, es erschien in Frankreich 1988, fünf Jahre nach dem Buch über ihren Vater, "La Place", das in diesem Frühjahr von Sonja Finck neu ins Deutsche übersetzt wurde. "Der Platz" war großartig, und "Eine Frau" ist es auch. Weder der Vater noch die Mutter bringen einen Leser zum Lachen, und sie bringen ihn auch nicht zum Weinen. Doch gehen die Bücher zu Herzen, wo sie eine schwarze und stille Freude verbreiten darüber, dass es sie gibt und der Vater und die Mutter immer da sein werden, in der Literatur, der großen, die zu Lebzeiten für sie, Menschen ohne konventionelle Bildung, verschlossen war. Jetzt sind sie dort, bewundernswert hineingeschmuggelt durch ihre Tochter.
Die beiden Bücher sind auf einschnürend fatalistische Art traurig, wie verödete Vorstädte, heruntergekommene Plattenbauten oder verlassene Bahnhöfe in der Provinz, traurig wie ein in den Jahren zerriebenes Menschenleben, von dem sich nichts Besonderes erzählen lässt, keine erhebende, strahlende, keine bedeutsame, keine verrückte Geschichte. Ein einfaches und unscheinbares Leben geht eben still und bescheiden dahin, als würde es nicht darauf ankommen, dass es zum Guten gelingt, dass es bewahrt, beschützt und zum Glück erhoben wird. Ohne Aufsehen verschwindet es, ohne große Ansprüche, erst langsam, dann immer schneller erlöschen die Wünsche und werden die Hoffnungen vertrieben.
Das bedrückende, zusammengekarrte Leben kommt aus kleinen, dunklen Verhältnissen, Knechte, Mägde, Arbeiter, und bleibt in zu kleinen, zu dunklen Verhältnissen stecken, auch wenn sich schmerzvoll, in jungen Jahren wilder und später wie gelähmt, das Verlangen regt, weiterzukommen, rauszufinden aus dem Stumpfsinn der billigen Arbeit, aus dem Zusammensein mit den anderen Armen und mit all denen, die nicht viel vom Leben haben und nie viel zum Leben haben werden.
Zu den Leuten, die schuften, schimpfen und Ohrfeigen verteilen, ständig ans Geld denken und den Absprung ins solide Glück nicht schaffen, die in engen Wohnungen, auch mal ohne Strom, leben und sich, trotz der Arbeit, nichts leisten können; die in billigen Zeitschriften blättern, um zu sehen, was es dort draußen gibt, verschlossen in der Welt, und die irgendwelche Schlager vor sich hin singen, um sich aufzumuntern - gehört die Mutter, blond, kräftig, gerne bunte Kleider tragend. Sie schafft es, nicht zu verzagen, sie krempelt die Ärmel hoch und bemüht sich, dass ihre Tochter es einmal besser haben wird.
Eines Tages ist aus dieser Frau eine Kleinbürgerin geworden, ein klein wenig mehr als eine einfache Arbeiterin, sie führt in einer Vorstadt einen winzigen Lebensmittelladen mit einer Kneipe und bedient eine Kundschaft, die auch anschreiben lässt.
Die französische Gesellschaft ist eine Klassengesellschaft, eine Tyrannei der rigiden feinen Unterschiede, die jene Bürger begünstigt, die zu den Begünstigten gehören, die sich durch eine gute, korrekte Sprache und eine gute, korrekte Bildung auszeichnen, und jene Bürger unten hält, die zu denen gehören, die nicht begünstigt sind, die mit Dialekt sprechen und in ärmlichen, bescheidenen Verhältnissen leben und sich nicht zu benehmen wissen wie die Wohlhabenden und sich dafür vor den anderen, den Besseren, Gebildeten schämen.
Von Generation zu Generation wird diese soziale Scham weitergegeben, und sie schleift sich nur ein wenig ab, wenn es einem Sohn, einer Tochter gelingt, aufzusteigen, die Schicht zu wechseln, in einem Wohnzimmer zu sitzen und mit erlernter Selbstverständlichkeit Bach zu hören. Darüber hat keine Tochter so bewegend, streng, nüchtern und unerbittlich geschrieben wie Annie Ernaux, und deswegen ist sie eine bedeutende Schriftstellerin geworden. Sie braucht keine großen Geschichten, sie muss nichts erfinden, sie will nicht unterhalten, sie möchte nur sagen, was und wie das Leben gewesen ist, für ihren Vater, damals, in "Der Platz", und für ihre Mutter, jetzt, in "Eine Frau".
Auch dieses Buch ist ganz schmal, und doch liegt es dicht und schwer auf der Seele und auf dem Herzen. Es beginnt mit der Nachricht vom Tod der Mutter, und es endet damit, und auf den Seiten, die dazwischen liegen, versucht die Tochter, sich an die Mutter zu erinnern, woher sie kam, was sie wurde, wie sie sich kleidete, wie sie war, wie sie aussah, was sie sagte, was sie hoffte, und das alles in schlichten Sätzen, tastend, vorsichtig, zurückhaltend, ohne Psychologie, ohne Psychoanalyse, ohne in einer Seele, einem Innern zu stöbern, nur durch Hinschauen und Zuhören. Dadurch entsteht eine großartige Miniatur, ein Porträt ohne Schminke, Wehleidigkeit und Vorwürfe, ein kostbarer Versuch darüber, wie es ist.
Am Ende bleibt im Leser eine leichte stumme Traurigkeit, eine abblätternde Empörung und eine unsinnige Verwirrung, unklares Mitleid auch und verzärtelte Melancholie und ein Hauch von Verzweiflung, von existentialistischem Gleichmut. Ein lang anhaltendes, gutes Gefühl, das sich nur einstellt vor überraschender einfacher Ehrlichkeit.
EBERHARD RATHGEB
Annie Ernaux: "Eine Frau". Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, 88 Seiten, 18 Euro. Annie Ernaux wird am 26. November in Berlin mit dem Prix de l'Académie de Berlin ausgezeichnet.
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