Besprechung vom 15.07.2024
Ich hab vor gar nichts Angst
Rike Schmid liest Beatrice Salvionis Debütroman "Malnata" über zwei widerständige Mädchen in der italienischen Provinz des Jahres 1935.
Malnata" heißt "die Unheilbringende". Es ist der Beiname für Maddalena Merlini, ein Mädchen, das mit Trotz, Eigenwilligkeit und Furchtlosigkeit gegen alle Erwartungen und Konventionen verstößt und dafür gefürchtet wird. Von ihr erzählt ausgerechnet ihre Zeitgenossin Francesca Strada, Tochter aus wohlhabender, streng katholischer und gegenüber dem Duce Mussolini nicht eben oppositioneller Familie.
Dieser Debütroman spielt in einem kleinen oberitalienischen Ort. Wer ihn sich vornimmt, begibt sich aber auch in die dunkelsten Strukturen des Patriarchats und wird Zeuge des aufziehenden Abessinienkrieges in Ostafrika. Denn die Freunde und Bekannten der Familie Strada tragen mehr oder weniger ungeniert das symbolische Rutenbündel als Abzeichen der Faschisten am Revers. Es ist das Jahr 1935, in wenigen Monaten wird die "Achse Berlin-Rom" etabliert. "La Malnata", so der Originaltitel aus dem vergangenen Jahr, ist allerdings schon deshalb kein Geschichtsroman, weil der Bericht aus der Perspektive eines zwölfjährigen Mädchens erfolgt, das ganz andere Dinge im Kopf hat als die Allianzen der Faschisten.
Was Mut und Keckheit angeht, so ähneln Maddalena und Francesca durchaus der zehnjährigen Kully in Irmgard Keuns "Kind aller Länder" (1938). Nur dass Kully mit ihren Eltern auf der Flucht vor den Nazis ist, während die beiden Italienerinnen ihr Dorf in der Lombardei nie verlassen. Die Haltung Maddalenas, die sich von niemandem etwas sagen lässt, kommt gleich zu Beginn im Laden des Obsthändlers Tressoldi zur Geltung, wo sich das Mädchen einfach ein paar Kirschen nimmt. Francesca stürzt die unerlaubte Handlung als Zeugin in ein moralisches Dilemma. Zunächst schützt sie das von ihr bewunderte Mädchen als Mitwisserin. Als der Diebstahl dann doch noch entdeckt wird, wächst ihr Respekt vor Maddalena, die mutig zum Gegenangriff übergeht. Der Obsthändler hat den Laden einst mithilfe der Faschisten einem Metzger abgenommen. Mit den selbstherrlichen Repräsentanten der neuen politischen Ordnung werden sich die Kinder noch manche Fehde liefern.
Francescas und Maddalenas engste Gefährten sind Filippo Fossati und Matteo Colombo. Während die Mädchen mit ihrer allmählichen Verwandlung in Frauen beschäftigt sind, träumen die Jungen vom Krieg, "der einen zum Mann macht". Bei den Wettkämpfen am "faschistischen Samstag" möchten sie zeigen, dass sie schon schießen können, später wollen sie mit der Muskete kämpfen und sich die "Frauen des Feindes nehmen". Maddalenas Bruder Ernesto fällt zur gleichen Zeit im Abessinienkrieg. Der Autorin Beatrice Salvioni gelingt es, die Ansichten und Überzeugungen der Erwachsenen authentisch in den Alltag der Kinder zu verweben, wo sie mit den Klischees der noch klar getrennten Mädchen- und Jungenwelten angereichert werden.
Und dann sind da die Geheimnisse, die Francesca und Maddalena teilen. Beide haben bereits kleine Brüder verloren, der eine starb früh an Kinderlähmung, der andere bei dem Versuch, wie ein Vogel aus dem Fenster zu fliegen. Ihre Freundschaft wird immer enger, was Francescas Mutter entschieden missbilligt und schließlich verbietet.
Als Donatella, eine Schwester Maddalenas, versucht sich das Leben zu nehmen, rücken die beiden noch enger zusammen. Die Gründe für die dunkle, unverständliche Tat wollen sie der seither beharrlich schweigenden Donatella mithilfe einer unter dem Kopfkissen versteckten Gänsezunge entlocken. Donatella war von ihrem vorgeblichen Verlobten Tiziano schwanger, der zur reichen faschistischen Familie Colombo gehört, und hoffte der Schande der "Bordsteinschwalbe" durch den Suizid zu entgehen. Und Tiziano glaubt doch tatsächlich, sich mit tausend Lire von seinem Treuebruch freikaufen zu können.
Später wird er auch noch Francesca belästigen, was diese entschieden und ohne Unterstützung ihrer Familie zurückweist. Als die Übergriffe zunehmen und eskalieren, werden Francesca und Maddalena ganz so, wie sie es sich in ihren Träumen ausgemalt haben, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich gegen Tiziano zur Wehr setzen. Die Courage dafür verdankt sich Malnatas Unerschrockenheit.
Die große Aufmerksamkeit, mit der Salvionis Roman in Italien aufgenommen wurde, könnte sich mit Anja Natteforts geschmeidiger Übersetzung (Penguin Verlag, München 2024) hierzulande wiederholen - auch dank der ungewöhnlich eindringlichen Hörbuchlesung der Schauspielerin Rike Schmid, deren Stimme in so mancher SOKO-Rolle womöglich noch nicht genug zur Geltung kam. Schmid versteht es auch, in Dialogen mit polternden Männern und eifernden Lehrern den Ton zu individuellen Stimmbildern abzuwandeln. Besonders gut machen sich die raue Unerschrockenheit und unbeugsame Haltung des Mädchens, das sich von niemandem etwas sagen lässt.
Es mag zu den klügsten Entscheidungen Salvionis gehören, die Umstände von Tizianos Tod bis zum Ende im Dunkeln zu lassen. Maddalena nimmt die Schuld zwar auf sich, auch um ihre zu Unrecht beschuldigte Schwester zu entlasten. Aber wie es sich genau zugetragen hat, vermag die Erzählerin Francesca nicht zu erklären. Es sind Männer, die sich dazu entscheiden, Maddalena als "die Unheilbringende" zu dämonisieren. Vielleicht, um sich selbst und andere davon abzulenken, wie sehr sie das Mädchen fürchten. ALEXANDER KOSENINA
Beatrice Salvioni:
"Malnata".
Ungekürzte Lesung mit Rike Schmid. Der Hörverlag, München 2024. Download, 404 Min.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.