Kann ein Buch einen Lebensschmerz überwinden? Ja.
Als die Fotografin Bettina Flitner vor einigen Jahren vom Suizid ihrer geliebten Schwester erfuhr, waren die ersten Reaktionen Schock, Lähmung und Verzweiflung. Doch dann entschied sie sich zum Erzählen. Das Ergebnis ist ein tief bewegender, meisterhafter Text, ein Buch der Befreiung.
Mit einem an der Fotografie geschulten, unbestechlichen Blick, voller Hingabe, Witz und Traurigkeit erzählt Bettina Flitner die Geschichte einer innigen Geschwisterbeziehung: eine Kindheit der 70er Jahre, die Jahre auf der Waldorfschule, die Erinnerung an die charismatischen Großeltern, darunter ein berühmter Reformpädagoge, der Vater ein Kulturmanager und Exponent des links-liberalen Bildungsbürgertums der alten BRD, ein Jahr in New York, die Ferien auf Capri, die ersten Liebesabenteuer in der Pubertät. Und dann die Risse: die Überforderung der Kinder durch das Leben der Eltern im Zeichen sexueller Libertinage, die Flucht der Mutter in die Depression, die unerfüllbaren Berufserwartungen der Eltern an die Töchter. Bettina Flitners Buch ist ein bewundernswert mutiger Schritt, sich den Gespenstern der gemeinsamen Vergangenheit zu stellen, sich von diesen zu befreien und so den Tod geliebter Menschen verarbeiten zu können. Ein Buch über ein Thema, das für viele Menschen immer noch von Tabus und Schweigen besetzt ist.
Besprechung vom 10.02.2022
Am Tag des Todes
Bettina Flitner erzählt von einem Suizid in der Familie
Die erste Szene dieses Buchs wiederholt sich kurz vor dessen Ende. Ein später Anruf zerstört den schönen Abend, den drei Frauen in Köln miteinander verbringen. Eine von ihnen ist Alice Schwarzer, aber deren Prominenz tut nichts zur Sache. Eine ist aus Wien angereist, ihren Namen werden wir nie erfahren. Und eine ist die Autorin dieses Buchs, Bettina Flitner. Ihre Schwester ist gestorben, hat sich selbst am Vormittag erdrosselt, der Anrufer ist der Schwager. Nach seiner Mitteilung ist nichts mehr wie zuvor.
Das schreibt sich so leicht und ist in der Konsequenz doch so schwer. Bettina Flitner ist Fotografin, eine der besten, die wir haben. Dass sie über ihr Handwerk und was es aussagt, tief nachdenkt, kann man ihren Bilderserien aus mittlerweile mehr als dreißig Jahren ansehen: nominell Reportagefotografie, doch de facto fotografische Psychologie. Flitner arbeitet gerne mit begleitenden Texten, die aus Äußerungen der von ihr Porträtierten während der Aufnahmesituationen bestehen. Ihr neues Buch jedoch hat nur Text - und als einzige Fotografie das Titelbild, natürlich ein eigenes Porträt, vierzig Jahre alt, eines, das über einen Spiegel den Blick auf sich selbst lenkt. Aber vor der damals einundzwanzigjährigen Flitner steht eine zweite junge Frau: die um wenige Jahre ältere Schwester. Zur Entstehungssituation liest man: "Es ist nicht sehr hell hier, und ich stütze die Kamera auf ihrer Schulter ab, damit die Aufnahme nicht verwackelt. Hier ist meine Schwester. Und dahinter bin ich. Wir spiegeln uns im Glas. Ich sehe sie an und sie mich. Das Spiegelbild der anderen. Die Kamera ist auf uns gerichtet. Ich drücke auf den Auslöser. Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde. Eine Ewigkeit."
Keine Ewigkeit. Sondern ein verfliegender Moment, der nur durch das Foto gebannt ist. Doch für Flitner zählen Vor- und Nachgeschichten solcher Momente mehr. Eines von vielen im Buch angesprochenen Fotos, die wir nicht sehen, sah sie selbst beim ersten Besuch in jener Wohnung der Schwester, die später zu deren Todesort werden sollte: eine Aufnahme aus dem Jahr 1970, als die vierköpfige Familie Flitner für sechs Monate in New York gelebt hatte, darauf festgehalten die Mutter und die beiden Töchter. "Meine Schwester hatte das Bild in einen silbernen Rahmen getan. So als wäre es eine schöne Erinnerung. So als wäre die Vergangenheit in dem Bild und nicht die Zukunft. So als wäre die Geschichte abgeschlossen."
Das ist die Schlüsselpassage in Flitners Erinnerungs- und Betrauerungsbuch, das lapidar "Meine Schwester" heißt und keinem Genre explizit zugeordnet wird. Ausgehend vom Augenblick der Todesnachricht, wird rückblickend erzählt: vor allem von der gemeinsamen Kindheit der Schwestern und der scheiternden Ehe der Eltern. Früh ist zu erfahren, dass auch die Mutter sich umgebracht hat, schon 1984. "Natürlich gibt es da eine familiäre Vorbelastung. Das hat eine genetische Komponente", erklärt ein mit Bettina Flitner verwandter Arzt am Tag nach dem Tod der Schwester. "Und entweder man erbt dieses Gen oder nicht." Die Kälte dieser Aussage ist der hochenergetische Antrieb dessen, was das Buch erzählt. Dessen Geschichte ist offen.
Und so erzählt Flitner mit offenem Visier, rücksichtslos gegen sich selbst, von allen Herrlichkeiten und Peinlichkeiten einer Herkunft, die hinter dem für Außenstehende perfekten Bild einer wohlsituierten Familie deren Scheitern versteckte. In jeder von Flitner erlebten engen Konstellation (außer in der mit Alice Schwarzer) lauern Abgründe: das todkranke Nachbarmädchen, die in patriarchalischen Ritualen gefangenen Großelternpaare, die sich wechselseitig betrügenden Eltern, die mit der Pubertät ihre Kleinmädchenideale verratenden Freundinnen. Und selbst im zur gemeinsamen Kinderzeit symbiotischen Verhältnis mit der Schwester ist die Entfremdung unvermeidlich: als die Schwester in ihrem Verhalten der Mutter immer ähnlicher wird. Aber das erkennt Flitner erst zu spät als Warnsignal. Ständig befragt sich die Autorin dazu, was sie hätte merken müssen.
Rahmen ihres Buchs ist der Tag des Todes im März 2017, sind jene vierzehn, fünfzehn Stunden zwischen dem Suizid und dem Anruf in Köln. Fortlaufend rekapituliert Flitner ihren damaligen Tagesablauf, all die Banalitäten, aber auch Gedanken an die Schwester, die nicht ans Telefon geht. Zwischen diesen Bruchstücken eines Schicksalstages stehen die Rückblicke aufs gemeinsame Leben - alle unter dem Zeichen dessen, worauf es hinauslaufen wird. Und gegen Ende sind wir eben wieder bei der Todesnachricht angekommen.
Trotzdem gibt es zuvor grandios komische Schilderungen, etwa die von der frühmorgendlichen Ruhestörung der Eltern, mit der diese sich am spätabends lärmenden Nachbarn rächen, von einer Begegnung mit Hannah Arendt in der New Yorker Zeit, die die neunjährige Bettina Flitner aber weniger faszinierte als eine mit Kermit dem Frosch, und vor allem vom Besuch der beiden erwachsenen Schwester in einem Pariser Kosmetikgeschäft. "Der Körper war auf die verschiedenen Regale verteilt: Es gab Regale für das Gesicht, für die Lippen, die Oberschenkel, den Po, die Zehen, die Fingernägel, die Augen, für die Hände, die Füße. Alles war Anti, alles war dagegen. Anti-rides, Anti-taches, Anti-chute, Anti-age. Gegen Falten, gegen Flecken, gegen Haarausfall, gegen Alter. Gegen trockene Haut, gegen fettige Haare, gegen raue Lippen. Nichts war für etwas. Wenn man alles auf einmal anwendet, dachte ich, ist man nicht mehr da." Und jemand, der all das anwendete, war die Schwester.
So ist das Schreckliche durchschossen vom Witzigen, und im höchstpersönlichen Einzelfall steckt auch ein Soziogramm der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Sechziger und Siebziger. Vor allem aber ist das Buch mitreißend geschrieben, ohne aufgesetzt emotional zu sein, und gäbe es nicht einige erstaunliche chronologische Unstimmigkeiten, müsste man es ein perfektes Memoir nennen. Begonnen wurde es in der Anfangszeit der Pandemie, als Bettina Flitner die Isolation zur Neugestaltung ihrer Website nutzen wollte. "Ich klappte meinen Laptop auf, öffnete eine neue Schreibdatei und begann mit dem ersten Satz dieser Aufzeichnungen. Es war einfach der richtige Moment." Es ist auch die richtige Lektüre. ANDREAS PLATTHAUS.
Bettina Flitner: "Meine Schwester".
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 315 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.