Vorwärts in die Vergangenheit
Weiße Löcher sind das Gegenteil von Schwarzen Löchern - sie sind vermutlich ihre Abkömmlinge. Die einen ziehen alle Materie unwiderstehlich in sich hinein, die anderen geben ihre Information wieder frei. Sie sind ein weiteres großes Rätsel der Kosmologie, und noch gibt es keinen Beweis ihrer Existenz. Einsteins Gleichungen lassen sie aber vermuten, und mit Carlo Rovellis Quantentheorie sind Weiße Löcher theoretisch darstellbar.
Der Physiker von Weltgeltung ist nach Jahren der Forschung davon überzeugt, dass es sie gibt. Sie könnten sogar die Erklärung für einen Teil der dunklen Materie sein. Ein Weißes Loch, das sich mit einem Schwarzen jenseits des Zeitflusses zu einem Wurmloch verbindet, könnte Materie aus dem Nichts irgendwo wieder herausschleudern. Weiße Löcher - gar der Ursprung unserer Existenz?
Dieses Buch ist der nächste große Wurf von Carlo Rovelli, aufsehenerregend und mit einer literarischen Inspiration geschrieben, die ihm längst den Ruf des «Poeten der modernen Physik» (The Irish Times) eingetragen hat.
«Wenige Autoren erfassen die Schönheit der Natur und das Aufregende ihrer Entdeckung in solch klarer, reicher Prosa.» New Scientist
«Ein globaler Superstar.» BBC
Besprechung vom 26.01.2024
Der Gandalf der Gravitationstheorie
Gequantelte Raumzeit macht es möglich: Carlo Rovelli erläutert, warum Schwarze Löcher vielleicht einmal weiß werden
Naturgesetze haben oft die Form mathematischer Gleichungen, und diese besitzen in der Regel mehr als eine Lösung. Aber entsprechen dann allen diesen Lösungen auch Vorgänge oder Objekte in der Natur? Interessant ist diese Frage nicht zuletzt in der modernen Gravitationstheorie, deren Gleichungen Albert Einstein 1915 fand. Denn ihnen folgen nicht nur die Bahnen der Planeten oder der Lauf von Lichtstrahlen im Schwerefeld der Sonne. Es gibt auch recht bizarre Lösungen der einsteinschen Feldgleichungen: Zeitschleifen in die Vergangenheit etwa oder "nackte Singularitäten", in deren Nähe die Theorie nicht auf die Zukunft schließen könnte, oder Gravitationswellen oder Schwarze Löcher und so fort.
Aber: Gravitationswellen und Schwarze Löcher gibt es doch! Erstere sind Schwingungen der Raumzeit selbst. Einstein bezweifelte zwar, dass sie sich je würden nachweisen lassen, doch 2016 ist das gelungen. Und Schwarze Löcher - Bezirke mit derart starker Gravitation, dass nicht einmal Licht daraus entfliehen kann - sind zwar seltsam, aber im Kosmos vielfach nachgewiesen, ein besonders dickes Exemplar sitzt im Zentrum unserer Milchstraße. Für beide Entdeckungen gab es Nobelpreise. Diese Phänomene sind heute integraler Bestandteil naturwissenschaftlichen Wissens.
Für Carlo Rovelli, gebürtiger Italiener und Physikprofessor an der Universität Marseille, könnte das eines Tages auch für die Weißen Löcher gelten. Auch diese Objekte sind mathematisch gültige Lösungen der einsteinschen Gleichungen. Im Grunde seien sie nicht einmal andere Lösungen als die der Schwarzen Löcher, schreibt Rovelli in seinem jüngsten Buch. Sie ergeben sich nämlich, wenn man Schwarze Löcher betrachtet und die Zeit rückwärts laufen lässt, was in der theoretischen Physik kein völlig unerhörtes Verfahren ist: Mit Elementarteilchen, Elektronen etwa, lässt sich im Rahmen der hier einschlägigen Quantentheorie Ähnliches anstellen, und man erhält eine Beschreibung ihrer Antiteilchen. Anders als diese sind Weiße Löcher aber noch keinem Forscher je untergekommen. Doch das bedeute noch gar nichts, argumentiert Rovelli.
Nun bekennt sich Rovelli sogar zu Weißen Löchern und widmet ihnen ein eigenes Bändchen. Den Untertitel der deutschen Ausgabe, "Ein neues Bild des Universums", hat der Autor in einem Interview missbilligt; allerdings steht hinter Rovellis Beschäftigung mit den Weißen Löchern durchaus ein bestimmtes Bild des Universums, wenn es auch kein ganz neues mehr ist. Die Rede ist von der Schleifenquantengravitation, ein seit Jahrzehnten von Rovelli und anderen verfolgtes Projekt zur Entwicklung einer physikalischen Theorie, die Einsteins Gravitationstheorie und die moderne Quantentheorie als Spezialfälle enthält. Erstere beschreibt Prozesse, für welche die Schwerkraft nicht vernachlässigt werden kann, Letztere sämtliche bekannten Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen untereinander. Doch beide sind schon konzeptionell derart verschieden, dass es bis heute nicht einmal im Ansatz gelungen ist, sie unter einen Hut zu bekommen. Ein besonders populärer Versuch, zu solch einer gemeinsamen sogenannten Quantengravitationstheorie zu kommen, ist die Stringtheorie. Die Schleifenquantengravitation ist eine der Alternativen dazu.
Wenn nun die Schleifenquantengravitation die korrekte Theorie ist, so hat Rovelli zusammen mit einem amerikanischen Kollegen namens Hal Haggard herausgefunden, dann könnte es sein, dass Schwarze Löcher weiß werden, "wie Tolkiens Gandalf". Warum, das versucht er auf hundertfünfzig Seiten zu erklären. Das heißt, eigentlich sind es deutlich weniger, denn Rovelli schweift mehrfach ab. Er hat nämlich nicht nur Tolkien gelesen, sondern auch Dante und das "Zhuangzi", ein Hauptwerk des Daosimus. Außerdem bewundert er Dürer, den Bildhauer Anish Kapoor - und natürlich Anaximander, für Rovelli der Hauptkerl der vorsokratischen Philosophie und Begründer des naturwissenschaftlichen Denkens, dem er schon ein anderes seiner inzwischen sieben im engeren Sinne populärwissenschaftlichen Bücher gewidmet hat. Mitunter wird der Ton lyrisch. Wer für solche Exkurse unempfänglich ist, kann sie getrost überblättern.
Denn über Schwarze Löcher - und erst recht über Weiße - hat Carlo Rovelli einiges zu sagen, was sich in anderen populären Büchern zum Thema so nicht findet. Wer allerdings gerne mehr über die Schleifenquantengravitation erfahren hätte, wird zu anderen Werken greifen müssen, etwa zu denen von Rovellis Fachkollegen und Mitstreiter Lee Smolin. Hier ist nur wichtig, dass dieser Ansatz eine konsequente Quantelung nicht nur von Größen der Materie postuliert, wie die herkömmliche Quantenfeldtheorie, sondern auch der Raumzeit. Sie postuliert damit einen kleinsten Abstand, den Durchmesser der "Raumquanten" sozusagen, der nicht unterschritten werden kann, auch nicht durch Einwirkung der gegen unendlich strebenden Gravitationskräfte im Zentrum eines Schwarzen Lochs, wo in der ungequantelten Gravitationstheorie eine sogenannte Singularität sitzt und Raum und Zeit enden. Dort werden in Einsteins Formeln allerdings Nenner zu null und seine Gleichungen somit ungültig, weswegen praktisch alle Forscher davon ausgehen, dass hier die gesuchte Quantengravitation das Regiment übernimmt.
In der Schleifenquantengravitation verhindert die Raumquantelung die Singularität. Und während sich in der einsteinschen Theorie ein Bild ergibt, in dem an der Außengrenze des Schwarzen Lochs, dem sogenannten Ereignishorizont, der Raum gewissermaßen die Rolle der Zeit übernimmt und Bewegungen nur noch in eine Richtung möglich sind - auf die Singularität zu -, kommt es im Schleifenbild zu einem "Rückprall". Nun kann nichts mehr in den Ereignishorizont mehr eindringen, nur noch etwas herauskommen - das Schwarze Loch ist weiß geworden.
Der Übergang von der einen zur anderen Einstein-Lösung muss quantentheoretisch beschrieben werden, und Hal Haggard kam auf die Idee, dies nach dem Vorbild des sogenannten Tunneleffektes zu versuchen, vermöge dessen Teilchen in der herkömmlichen Quantentheorie etwa über Barrieren springen können, obwohl sie nicht über ausreichend Energie dafür verfügen. "Hier ist es kein Teilchen, das da springt: Es ist die Raumzeit selbst", schreibt Rovelli, ohne aber auf die Hintergründe und Grenzen der Analogie zum quantenmechanischen Tunneln einzugehen. Es bleibt bei vagen Sätzen wie diesem: "Beim Durchqueren der Region, in der Einsteins Theorie das Ende der Zeit vorsah, existieren Zeit und Raum für einen kurzen Augenblick nicht mehr." Der Leser wird lediglich noch darüber informiert, dass der Rückprall mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintritt, die mit den Gleichungen der Schleifenquantengravitation berechnet werden kann. Dabei deutet Rovelli an, dass hier nicht alle Schleifentheoretiker dasselbe herausbekommen.
Immerhin liefert die Idee eine Erklärung dafür, warum Weiße Löcher bislang nicht beobachtet wurden: Es gibt sie noch nicht. Denn die Wahrscheinlichkeit für ein Schwarzes Loch, zu einem Weißen zu werden, steigt mit sinkender Masse. Zwar verlieren Schwarze Löcher mit der Zeit Masse infolge der Abstrahlung sogenannter Hawking-Strahlung, doch das zunächst nur extrem langsam. Die empirisch gesicherten astronomischen Schwarzen Löcher - auch die kleinen, die aus dem Kollaps sehr schwerer Sterne hervorgehen - sind schwer genug, um Äonen zu überdauern, ohne weiß zu werden.
Allerdings erwähnt Rovelli ganz am Schluss des Buches, kurz nach dem Urknall könnten sehr leichte Schwarze Löcher entstanden sein, aus denen bald Weiße Löcher minimaler Masse wurden. Sie wären kaum schwerer als ein menschliches Haar, und wenn es sie gibt, stellen sie vielleicht die rätselhafte "Dunkle Materie", die sich nur durch ihre Schwerkraft bemerkbar macht. Hier wäre eine Abschätzung über die Häufigkeit dieser Weißen Minilöcher im Raum interessant gewesen, während Rovelli an dieser Stelle den lyrischen Duktus bevorzugt, um sie als im Universum schwebende Libellen zu beschwören. Doch vielleicht fliegt ja in diesem Moment gerade eins an unserer Nase vorbei. Darf man Einstein-Lösungen, die uns so nahe kommen, noch bizarr nennen? ULF VON RAUCHHAUPT
Carlo Rovelli: "Weiße Löcher". Ein neues Bild des Universums.
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 S., geb.
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