"Die Entschiedenheit, Klarheit, Härte und Sicherheit im Ton von Cemile Sahin ist eine Wucht." Julia Encke, FAS In neun Episoden erzählt Cemile Sahin von neun Menschen, die ihr Exil in einem Hochhaus im Westen der Türkei finden. Sie alle haben Folter, Gewalt und Verschleppung durch Einheiten der türkischen Armee und der Polizei erlebt. Darunter: Eine Mutter, die ihren toten Sohn auf einen Pick-up lädt. Ein Mann, der seine schlafende Tochter draußen ins Gebüsch legt, bevor er sein Haus anzündet. Eine Frau, die angekettet in einer Hundehütte gehalten wird. Während sie von ihrer Flucht berichten, holt sie der systematische Terror des türkischen Militärs wieder ein. ALLE HUNDE STERBEN ist eine Chronik über ein Land, geprägt von Militarismus und Nationalismus - entschieden, klar, furios erzählt. "Verbrechen, Gewalt, Folter brauchen eine Sprache. Und hier sprechen sie." Mely Kiyak "Realität funktioniert in diesem Land nur über Gewalt, sagt Cemile Sahin. Hilft es, die Gewalt darstellbar zu machen? Nein, sagt sie; sie versucht es trotzdem. Und genauer hat es noch kaum jemand geschafft." Klaus Theweleit
Besprechung vom 06.09.2020
Der Krieg hinter den Bildern
Cemile Sahin wird als Künstlerin und als Schriftstellerin gefeiert. Ihr Debütroman "Taxi" war etwas Neues in der deutschen Gegenwartsliteratur. Jetzt zeigt sie in Berlin neue Arbeiten. Gleichzeitig erscheint "Alle Hunde sterben", ihr zweiter Roman - ein Kunstwerk zur Frage, wie Gewalt darstellbar ist.
Was man sieht, ist: fast nichts. Nur ein Parkdeck, irgendwo auf einem Hochhaus. Eine Reihe schwarzer Mittelklasselimousinen ist dort zu sehen, klassische Angestellten-Autos, eine große Limousine (Chef?), ein Kleinwagen (Praktikant?), dazu ein paar SUV. Es ist Winter - da liegen Schneereste, zusammengedrängt an den Rändern der Parkplätze. Das Wort "One way", in weißen Buchstaben auf den Beton gedruckt, befiehlt die Fahrtrichtung. Den Fahrzeugmodellen nach muss das Bild irgendeinen Ort in Nordamerika zeigen. Das Auge sucht es nach Bedeutungen ab: Warum bitte zeigt man uns das jetzt? Was passiert hier? Sitzt da einer in dem burgunderroten Honda, und wenn ja, warum?
Mit so einem Bild könnte eine Netflix-Serie, ein Thriller beginnen; so sehen die Momente aus, bevor man die Leiche, irgendetwas Furchtbares in einem Kofferraum entdeckt. Weil es nicht sein kann, dass dort nichts passiert, ist das Bild umso unheimlicher. Es muss dort etwas sein, was wir übersehen haben, sonst würde man es uns nicht zeigen.
Das Bild ist Teil einer Arbeit der in Berlin lebenden Künstlerin Cemile Sahin und als solches, als Kunstwerk, in einer Gruppen-Ausstellung zu sehen, die in diesen Tagen im Berliner Club Berghain eröffnet. Das gleiche Bild taucht aber auch als Motiv in einem Roman auf, der morgen im Aufbau Verlag erscheint und ebenfalls von Cemile Sahin stammt. Er heißt "Alle Hunde sterben" und beginnt mit einem Satz, der wie eine Regieanweisung in einem Drehbuch klingt: "Wir sehen ein Hochhaus im Westen der Türkei. Das Hochhaus hat 17 Stockwerke. Es gibt einen Aufzug. Ein Dach und einen Keller. Wir stehen im Treppenhaus."
Damit ist der Standpunkt des Betrachters benannt - und gleichzeitig tut sich, wie so oft in Sahins künstlerischen Arbeiten, eine Text-Bild-Schere auf, es entsteht eine Verwirrung, denn wir sehen auf dem Frontispiz-Foto ja eben kein "Hochhaus im Westen der Türkei", sondern eins in Amerika. Was kann man glauben? Was für ein Film beginnt hier? Schon Sahins erster Roman "Taxi", der im vergangenen Jahr erschien, war auch deswegen eine solche Sensation, weil er auf eine Weise, auf die es noch nie jemand versucht hatte, die Erzählformen von Film und TV-Serien, von Internetforen und Youtube mit denen des klassischen Romans vermischte. Sahin wurde als "souveräne Erzählerin einer hybriden, zeitgemäßen Literatur" gefeiert. In "Taxi" ging es um eine trauernde Mutter, die eine TV-Serie schreibt, um ihren als vermisst gemeldeten, vermutlich gestorbenen Sohn weiterleben zu lassen. "Rosa Kaplan beschließt, ihr Schicksal nicht zu akzeptieren und den Sohn, der ihr durch den Krieg genommen wurde, durch einen anderen zu ersetzen", heißt es zu Beginn dieses Romans. Sie castet einen Mann, der dem Sohn ähnlich sieht, bricht ihm gleich mal die Nase, damit er ihm noch ähnlicher sieht und sich die Ähnlichkeit nicht nur als Schau-Spiel aufschminkt und darstellt, und schnell gerät die Fiktion, die derart gewalttätig zur Realität gemacht wird, mit dieser in burleske Konflikte.
Sahin, 1990 in Wiesbaden geboren, ist mit sechzehn nach London gezogen und hat dort am St. Martins College Kunst studiert, wollte eigentlich nach New York und kam dann wieder nach Berlin, wo sie seitdem lebt. Zwei Themen tauchen immer wieder in ihren künstlerischen Arbeiten auf - die Manipulation der Wahrnehmung von und durch Medienbilder, die die kollektive Erzählung von Gesellschaften prägen, und das Motiv des Doppelgängers, der als Figur ja seit der Romantik Verkörperung sowohl einer verdrängten Wahrheit als auch eines denkbaren anderen Lebens ist. In "Taxi" schafft die Mutter einen Doppelgänger für den vermissten Sohn; in "Alle Hunde sterben" sind die Geschichten selbst Doppel- und Wiedergänger.
Wie in "Das Leben. Gebrauchsanweisung" von George Perec, mit dem Sahin auch der lakonisch beschreibende, sachliche, präzise Ton verbindet, ist in "Alle Hunde sterben" ein Haus das Gerüst der Erzählungen. Sahin erzählt die Geschichten von neun Menschen, die übereinander in einem Mietshaus wohnen, beginnend mit Necla im Erdgeschoss: "Necla hat pechschwarzes Haar. Necla hat einen Hund. Necla kommt von anderswo." Wie "Taxi" handelt auch dieses Buch im Kern von einem Krieg, den man in Europa gern vergisst und verdrängt.
In den folgenden Kapiteln stellt sich heraus, dass alle die Menschen im Hochhaus geflohen sind vor Gewalt, Folter, Verschleppung durch Armee und Polizei; dass ihre Geschichte, die Geschichte unfassbarer Gewalt, sich in jedem Stockwerk immer wiederholt; dass sie alle "Revenants" sind, sich vor der Rückkehr ihrer Peiniger fürchten und auf die Rückkehr jener hoffen, die sie zurücklassen mussten. Geschrieben sind die neun Episoden im Stil eines literarischen Protokolls. "Ich wohne seit 11 Jahren in diesem Hochhaus", spricht Necla. "Als ich hierherkam, hatte ich einen Hund. Mein Hund hieß Bero. Ich sagte immer: Bero, es gibt essen. Dann stellte ich eine Schüssel mit Fleisch auf den Steinboden, und Bero fraß, bis die Schüssel leer war. Als Bero fertiggegessen hatte, starrte er die Schüssel weiter an, und ich sagte: Bero, du hast schon gegessen. Bero jaulte einmal auf, und ich lachte, und ich nahm die Schüssel vom Boden und stellte sie in die Spüle. Das ist alles, was wir haben, sagte ich: eine leere Schüssel mit Fleisch." Erst später erfährt man, dass ihr Mann in den Bergen starb, weil die Herrschenden glaubten, er sei ein Terrorist und Aufständischer; dass Necla, damit wenigstens sie den Spitzeln und den Soldaten entkommen, ihre kleinen Kinder vor vielen Jahren nachts allein losschickte zu Verwandten und dass sie seither auf ihre Rückkehr hofft. Und dass stattdessen die Peiniger, die sie einst quälten und folterten, zurückkommen ins Hochhaus und ihren Hund erschießen.
In den anderen Etagen wiederholt sich die Geschichte: "Mein Name ist Nurten", sagt die Frau, "und ich bin fünfundfünfzig Jahre alt. Ich habe vier Kinder. Eins ist tot, und drei sind im Gefängnis. Wir haben nichts verbrochen. Das müssen Sie mir glauben, auch wenn Ihnen etwas anderes erzählt wird." Auch ihr Mann Hasso war im Gefängnis und kehrte gebrochen zurück; er ahnt, weiß, versucht nicht daran zu denken, wie es seinen Jungen ergeht, während seine Frau zum Trost ein Brot nach dem anderen bäckt.
Alle hier sind Geflohene, von einem autoritären Regime zu Terroristen erklärte, verfolgte Minderheiten. Ein Ehepaar will den getöteten Sohn in der Heimat beerdigen und fährt mit dem Kind auf der Ladefläche ihres Pickups auf einen Kontrollposten zu; der Posten zwingt die Eltern zum Umkehren; sie beerdigen ihren Sohn, so gut es geht, an einer der schöneren Stellen am Straßenrand, so nah wie möglich an der Heimat. Ein Mann trägt seine schlafende Tochter nach draußen, bevor er sein Haus anzündet. Ein junger Mann schießt auf die Peiniger seiner Mutter. "Der Spitzel würde notieren: Kinder von Terroristen werden selbst zu Terroristen. So erklären sie den Lauf der Dinge in diesem Land."
Es gibt, trotz des Horrors und der Trauer, immer wieder Hoffnung, Solidarität, Trost, etwas ungebrochen Humanes und Großes in diesen Geschichten, aber keine Erlösung, weil die Erlösung nur eine politische sein könnte; das ist vielleicht das Politische an Sahins Kunstwerken (zu denen sie auch die Bücher zählt): Sie zeigen etwas, was es so noch nicht zu sehen gab, und sie machen den Deckel nicht wieder zu; das überraschende Ende des Buchs ist keins, mit dem man beruhigt das Thema abhaken kann.
"Alle Hunde sterben" ist nicht nur eins der beeindruckendsten, sondern auch der dunkelsten Bücher dieses Jahres. Einer so kafkaesken, albtraumhaft brutalen Welt, wie Sahin sie beschreibt, begegnet man in der deutschen Gegenwartsliteratur sonst nicht - obwohl viele diejenigen, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland flohen, von solchen Erfahrungen berichten könnten. Es handelt davon, was Menschen Menschen antun und wie es so weit kommt - welche Bilder, welche Erzählungen zur vollkommenen Inhumanisierung der Soldaten führen. "Alle Hunde sterben" ist kein Buch, in das man nach dem Abendessen noch ein bisschen hineinliest; spätestens bei der Szene, in der Necla gezwungen wird, eine tote Ratte in den Mund zu nehmen (eine Praxis, die, sagt Sahin, in bestimmten Gefängnissen gern praktiziert wurde und wird), kommt man als Leser an Grenzen, und anders als in amerikanischen Serien überlebt auch ihr dreibeiniger Hund, den man schnell liebgewinnt, den nächsten Besuch der Peiniger eben nicht - alle Hunde sterben.
Immer wieder wenden sich die Ich-Erzähler der Geschichten, die unterschiedliche Versionen des Geschehenen anbieten, an den Leser mit dem Satz "Schreiben Sie das auf" und machen ihn so zum Zeugen, der etwas weiterzuerzählen hat.
Sahin schreibt ohne jede Sentimentalität, kühl wie für einen Report. Was sie interessierte, sagt Sahin, war die Frage, ob und wie eine Gewalt darstellbar ist, die keiner sehen soll - und was Klaus Theweleit im Blurb zum Buch sagt, dass "genau das genauer noch kaum jemand geschafft" hat, ist nicht nur einer der üblichen superlativistischen Werbesprüche.
Anders als in "Taxi", der von einer unbenannten Kriegsregion handelt, benennt Sahin in "Alle Hunde sterben" den Ort, an dem das Drama spielt, die Türkei. Es wäre aber zu kurz gedacht, würde man diesen Roman nur als Kritik an den Verhältnissen in der Türkei lesen. Natürlich kann man, ohne etwas über Sahins Kunst zu wissen, "Alle Hunde sterben" als beeindruckende Literatur lesen, die den Terrorisierten und ihrem Leiden eine Stimme gibt. Doch geht es dabei zugleich um Fragen, die sie in ihrer Kunst immer wieder aufwirft: Was kann man glauben? Was wird wie erzählt, wer hat die Deutungshoheit über Geschichten? Immer wieder sagen die Figuren: "Das müssen Sie mir glauben" - so, als ob es im Buch eine Gegenerzählung gäbe, die die eigene zersetzt.
Wie funktioniert Geschichtsschreibung, und wie finden die Wahrheiten, die verschwinden sollen, ans Licht? Und wie kann man das Nacheinander der Geschichten, das Geschichte notwendig sortiert, ordnet, wertet, auflösen, wie kann man quer durch all diese Geschichten schneiden, so, als schneide man mit einem Schlag das Hochhaus auf, in dem sie sich stapeln? Schließlich: Welche Details, welche medialen Strategien führen dazu, dass man etwas glaubt, dass man jemandem vertraut und anderen nicht? Ist es der Blick einer Person, die Farbe der Einrichtung hinter ihm, sein Pullover, der sie glaubwürdig erscheinen lässt? Diese Fragen, bei denen es um die Manipulation von Gesellschaften durch Bildformeln und visuelle Erzählstrategien geht, präsentiert Sahin in ihren Videoinstallationen oft wie einen Krimi.
Sahin selbst sieht sich als Künstlerin, die sich unter anderem der Form des Romans bedient (der später zur Vorlage für einen Film wird), um etwas sichtbar zu machen, was sie auch auf andere Weise in ihrer Kunst beschäftigt - dabei entsteht aber eine mitreißendere, neuere, unerwartetere Literatur als in vielen Fällen, wo sich jemand der Form der literarischen Erzählung bedient, um Schriftsteller zu sein. Natürlich hat es auch "Alle Hunde sterben" nicht auf die Longlist des von der Deutsche Bank Stiftung finanzierten Deutschen Buchpreises geschafft, vielleicht, weil es zu wild und zu dunkel ist und zu unversöhnlich hineinknallt in den bloß mild-nostalgischen Wohlfühlgrusel, der in Deutschland am Ende meistens die Literaturpreise gewinnt. Aber dass Sahins Romane von der literaturkritischen École des Beaux-Arts so ausgiebig ignoriert werden, kann man auch als Auszeichnung verstehen für eine Literatur, die nicht die immer gleichen rührselig-milden Geschichten aus dem bundesrepublikanischen Wendehammer noch mal aufkocht (junger, sympathisch-orientierungsloser Mann trudelt durch das Berlin der Gegenwart/der Zeit um 1989; mittelmäßig sympathischer, mittelalter Mann lebt in einem Dorf/kommt in sein Dorf zurück, wo ein dunkles Geheimnis auf ihn wartet ) - und die mehr will, als "humorvoll von einer Welt im Wandel" oder von der "Kraft der Phantasie" (Website des Deutschen Buchpreises) zu erzählen.
Sahins Romane erzählen von einer unfassbar finsteren Welt, die man nicht sieht; die nur kurz aufblitzt, wenn man in den Nachrichten Bilder von Demonstrationen aus dem Gezi-Park, aus Hongkong oder aus Kenosha sieht; sie erfinden neue Formen, von dem zu erzählen, was jenseits der Bilder und der Vorstellungskraft liegt.
NIKLAS MAAK
Cemile Sahin: "Alle Hunde sterben". Aufbau Verlag, 239 Seiten
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