Der Bestseller über die Kühnheit und das Scheitern, über das Leben und die Kunst
Eine sündhaft teure Schwimmhalle versinkt im morastigen Grund. Ein Kirchturm beugt sich nach Fertigstellung «wie ein geknickter Phallus». Vier Toiletten werden geplant - für 2400 Soldaten.
13 Architekten misslingt ihr Bauwerk. Alle 13 gehen daran zugrunde und einige begehen sogar Suizid, weil sie das Scheitern nicht ertragen. Die gefeierte Lyrikerin Charlotte Van den Broeck besucht diese 13 teils zeitgenössischen, teils jahrhundertealten Gebäude. Einer investigativen Journalistin gleich recherchiert sie Leben und Wirken der Architekten, die finanziellen und gesellschaftshistorischen Umstände, unter denen die Projekte entstanden sind. Während ihrer Reisen begegnet sie leidenschaftlichen, alltäglichen und skurrilen Menschen und verbindet das Gesehene und Erlebte mit eigenen Erfahrungen, Gefühlen, Erinnerungen. Und mit den Fragen: Welcher Wagemut, welche Leidenschaft und welche Opfer sind nötig, um etwas Großes zu schaffen? Und sollten wir nicht alle mehr scheitern dürfen?
Unterhaltsam, elegant, berührend, neugierig, sinnlich - so vielfältig ist der Grenzgänger aus Autobiografie, Geschichtsschreibung, Journalismus, Tagebuch, Essaysammlung. Und so demonstriert auch die Autorin die Lust am Wagnis, die echte Kunst erst möglich macht.
Zu den bekannten Bauwerken in "Wagnisse" gehören die Staatsoper in Wien, San Carlo alle Quattro Fontane in Rom ("San Carlino") von Franceso Borromini und die Kelvingrove Art Gallery in Glasgow.
Besprechung vom 14.05.2021
Zuletzt geht es immer ums Leben
Charlotte Van den Broeck nimmt traurige Geschichten von Architekten zum Anlass, um über Ansprüche an die Kunst nachzudenken.
Der Begriff "Wortkunst" könnte eine treffliche Bezeichnung für einen Literaturstudiengang sein, und doch hat er sich hierzulande nie recht etabliert, vielleicht weil ihm etwas Artistisches anhängt. Schade eigentlich. Charlotte Van den Broeck jedenfalls hat "Verbal Arts" am Konservatorium Antwerpen studiert, also das, was hierzulande unter der kulturbürokratischen, aus Amerika importierten Bezeichnung "Kreatives Schreiben" läuft. Noch während des Studiums ist die 1991 im belgischen Turnhout Geborene mit großer Resonanz in Flandern und den Niederlanden als Lyrikerin hervorgetreten - auf Deutsch ist ihr Gedichtband "Nachtdrift" erschienen.
Nun hat sie mit "Wagnisse" ein Buch vorgelegt, das ihr deutscher Verlag als Sachbuch rubriziert. Der Untertitel "13 tragische Bauwerke und ihre Schöpfer", den das Original nicht hatte, sorgt für die Erwartung, es mit einer Art Architekturführer zu katastrophischen Bauten zu tun zu haben. Er ist irreführend. Und überhaupt: Was wäre ein tragisches Bauwerk? Tragisch kann allenfalls das Schicksal seines Urhebers sein.
So beschreibt Van den Broeck die dreizehn Bauten, die sie in Italien, Österreich, Belgien, Frankreich, Schottland und den Vereinigten Staaten aufgesucht hat, meist nur mit ein paar Zeilen. Ihr Interesse gilt eher deren Architekten, die eines verbindet: Sie wurden über ihr Herzensprojekt unglücklich, weil es in der Ausführung den eigenen Ansprüchen nicht genügte oder weil es den ignoranten Zeitgenossen nicht gefiel, und sie setzten deshalb ihrem Leben selbst ein Ende - tatsächlich oder zumindest der Fama nach.
Van den Broeck erzählt die Geschichte, wie die beiden Architekten der Wiener Staatsoper, die trotz oder wegen aller Gegensätzlichkeit eine tiefe Freundschaft verband, angesichts der böswilligen Kritik an ihrem Bau aus dem Leben schieden, der eine erhängte sich, der andere starb kurz darauf an gebrochenem Herzen. Reginald Wycliffe Geare öffnete den Gashahn, nachdem 1922 Dutzende Menschen vom herabstürzenden Dach des von ihm erbauten Kinos Crandall's Knickerbocker Theatre in Washington DC erschlagen worden waren. Einen ähnlichen Tod wählte Gaston Eysselinck für sich, der Architekt des im Internationalen Stil errichteten Postgebäudes in Ostende. In Rom besucht die Autorin die Barockkirche San Carlo alle Quattro Fontane, das Meisterwerk von Francesco Borromini, der depressiv wurde - vielleicht auch weil sein Konkurrent Gian Lorenzo Bernini erfolgreicher war - und sich in den Säbel stürzte.
Aber auch der Umstand, dass sie sich Baumeistern widmet, ist in gewisser Weise nebensächlich für Van den Broeck. An die Architekten richtet sich stellvertretend die Frage, welchen Qualitätsmaßstab jeder ernsthafte Künstler an das eigene Werk anlegen sollte und ob der Einsatz das Leben sein darf oder gar muss. "Es gibt nur Vollendung und Scheitern", das scheint für Van den Broeck festzustehen, ein Meisterwerk soll es sein oder nichts. Mit dieser etwas altmodisch anmutenden Überzeugung verbindet sich die nicht weniger schwierige und oft gestellte Frage, wie der Perfektionismus in der Kunst mit den Anforderungen privater Beziehungen zu vereinbaren wäre. Die Symmetrie im Grundriss des Kelvingrove Art Gallery and Museum in Glasgow, dessen Westflügel sich dem "Leben" in all seinen Ausprägungen widmet und dessen Ostflügel dem "Ausdruck", also der künstlerischen Verarbeitung zugeeignet sein soll, ist eine Scheinlösung: Auch seine Architekten endeten tragisch.
In die Beschreibung der Bauten und ihrer Urheber flicht Van den Broeck Schilderungen von ernüchternden Begegnungen während ihrer Recherchereisen ein, außerdem Erinnerungen an traumatische Kindheitserlebnisse und verflossene Liebhaber. Auf diese Weise wird "Wagnisse" immer mehr zur Autobiographie. Auch in ihr ist der Tod ein Leitmotiv: In Rom hat die Autorin einst eine todgeweihte Taube beobachtet, das Erlebnis löste eine Erschütterung aus, die Van den Broeck veranlasste, sich gegen Ende des Studiums aus einer eng gewordenen Beziehung zu lösen und ins Risiko der freien Schriftstellerexistenz zu gehen. Und immer wieder werden Reflexionen über Lebenshaltung und Todessehnsucht bedeutender Schriftsteller und Philosophen eingestreut, zwischen Sylvia Plath und Spinoza sucht die Autorin ihren Weg.
Das liest sich ein wenig prätentiös und akademisch (und ist wohl genauso gewollt), zugleich ist es bestechend formuliert und in seinen Motiven so subtil komponiert, dass ein Sog entsteht. Der Leser hat es mit einer Mischung aus Essay, Reportage, Sachbuch und Erzählung zu tun; es handelt sich um ein Beispiel jener Prosagattung, die in Amerika als "Creative Nonfiction" bezeichnet wird. Und tatsächlich beruft sich Van den Broeck an einer Stelle auf John McPhee, den Großmeister des erzählenden Sachbuchs. Sie behauptet, von ihm lernen zu wollen, selbst weniger in ihrem Text sichtbar zu sein.
Das ist Ironie, denn in "Wagnisse" dreht sich alles nur um eine Sonne, das Ich der Autorin, einer jungen Künstlerin, die sich selbstbewusst und gleichzeitig zerbrechlich gibt, schroff und sensibel, ängstlich und risikobereit. Hier stellt sich eine Gefährdete vor, die im Schreiben eine feste Verbindung zu einem lebendigen Leben sucht. Den Schluss macht eine Nahtoderfahrung im Atelier eines Künstlerarchitekten, das zugleich Tatort seines sorgfältig inszenierten Suizids war. Sie wird geschildert als surreale Traumsequenz. Man darf das als Botschaft der Autorin verstehen, als Erzählerin in die Welt der fiktionalen Literatur zurückkehren zu wollen. Auch dort ist diese Wortkünstlerin glänzend aufgehoben.
MATTHIAS ALEXANDER
Charlotte Van den Broeck: "Wagnisse". 13 tragische Bauwerke und ihre Schöpfer. Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 352 S., geb.
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