Wie so viele europäische jüdische Wissenschaftler und Künstler floh auch Claude Lévi-Strauss Anfang der 1940er Jahre vor den Nationalsozialisten in die USA und lebte als Flüchtling in New York. Dieser Band legt Zeugnis ab von der Erfahrung des Exils, von einem sowohl biografisch als auch historisch entscheidenden Moment. Diese zwischen 1941 und 1947 geschriebenen Texte präsentieren den politischen Zeitzeugen und lassen zugleich die Vorgeschichte der strukturalen Anthropologie sichtbar werden, mit der Lévi-Strauss in der Nachkriegszeit die wissenschaftliche Welt im Sturm erobern sollte.
Die amerikanischen Jahre stehen für ihn im Zeichen historischer Katastrophen: zum einen der Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner und zum anderen des Völkermords an den Juden Europas. Seit der Zeit des Exils scheint die Anthropologie von Lévi-Strauss durch die Erinnerung und die Möglichkeit der Shoah, die nie benannt wird, geprägt zu sein. Strukturale Anthropologie Zero bedeutet daher, zur Quelle eines Denkens zurückzukehren, das unser Menschenbild revolutioniert hat. Diese Vorgeschichte des Strukturalismus unterstreicht aber auch das Gefühl eines neuen Anfangs, das ihren Autor am Ende des Krieges beseelte, und beleuchtet das Projekt eines zivilisatorischen Neubeginns.
Besprechung vom 20.07.2021
Sind wir denn modernen Danaiden gleich?
Ein Band mit frühen Texten von Claude Lévi-Strauss wirft neues Licht auf die Geschichte des Strukturalismus
Studien zur Geschichte des Strukturalismus folgen häufig dem erzählerischen Modell der Heldenreise: Ein naiver junger Ethnologe schafft es 1941 mit viel Glück aus dem besetzten Europa in die Vereinigten Staaten und kehrt sechs Jahre später, zum Strukturalisten gewandelt, nach Frankreich zurück. Dort gelingt ihm, nach einer Reihe von Rückschlägen, schließlich der Aufstieg in den Olymp der akademischen Welt. Claude Lévi-Strauss selbst hat zur Verfestigung dieser Erzählung sein Scherflein beigetragen, indem er die Entstehung der strukturalen Anthropologie anhand seiner Buchpublikationen immer wieder wie einen klassischen Hollywood-Plot erzählte: Nach anfänglichen kleinen Erfolgen ("Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft", 1949) scheitert der Held spektakulär ("Traurige Tropen", 1955). Schließlich aber überwindet er alle Hindernisse und führt seine neue Methode einer strahlenden Zukunft entgegen ("Strukturale Anthropologie", 1958).
War der bemerkenswerte Erfolg der strukturalen Anthropologie aber tatsächlich, wie von Lévi-Strauss suggeriert, ein "Durchbruch"? Oder handelte es sich vielmehr um einen allmählichen Prozess, in dem sich nicht nur die äußeren Umstände veränderten, sondern auch die Methode selbst? Die siebzehn verstreut erschienenen und wenig bekannten Aufsätze von Lévi-Strauss aus den Jahren 1941 bis 1947, die Vincent Debaene in "Strukturale Anthropologie Zero" versammelt und mit einem lesenswerten Vorwort versehen hat, zeigen, dass ihr Autor tatsächlich früh damit begonnen hat, seine Vergangenheit zu kuratieren und mit dem Bild des weltabgewandten Intellektuellen zu kokettieren, der sich mithilfe seines berühmten Zettelkastens dem Studium des Menschen widmet. Aber anders, als viele seiner autobiographischen Äußerungen vermuten lassen, ist der Lévi-Strauss der Vierzigerjahre noch kein in der Wolle gefärbter Strukturalist mit gefestigtem Programm. Stattdessen begegnet uns ein junger Wissenschaftler, der sich sichtlich müht, angesichts von privaten, politischen und intellektuellen Krisen Perspektiven für seine künftige Arbeit zu entwickeln.
Strukturalistische Überlegungen und Analysen finden sich dabei in großer Fülle. Alles andere wäre auch eine Überraschung, stammen die Texte doch aus der gleichen Zeit wie viele der Aufsätze, die Lévi-Strauss 1958 unter dem programmatischen Titel "Strukturale Anthropologie" veröffentlichte. Daneben aber lassen sich zahlreiche Versuche ausmachen, die strukturalistische Reflexion auch politisch fruchtbar zu machen, in Texten, die bislang mehrheitlich schwer zugänglich waren und von Wissenschaftshistorikern nur selten konsultiert wurden. Strauss selbst hatte seine Auswahl 1958 damit begründet, dass viele der Texte, aus denen er sie traf, "besser der Vergessenheit überantwortet" würden. Ihre Veröffentlichung führt nun vor Augen, dass die Textsammlung von 1958 nicht den vorläufigen Kulminationspunkt der strukturalistischen Ideenfindung markiert, sondern, im Gegenteil, einen Neuanfang.
Wie genau die politische, intellektuelle und persönliche Neuausrichtung in den Exiljahren ablief, bleibt zwar weiterhin herauszufinden, aber der Leser kann erahnen, dass es gerade die Erfahrung der Entwurzelung war, die Lévi-Strauss in Amerika zu einem zutiefst europäischen Wissenschaftler werden ließ, für den der Strukturalismus zur Rettungsinsel in der scheinbar ziellosen Dokumentationstätigkeit seiner amerikanischen Fachkollegen wurde.
Der ethnologische Vergleich stand Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in keinem guten Ruf. Der Evolutionismus hatte sich mit seinem Versuch, Gesellschaften auf einem imaginären Zeitpfeil zu lokalisieren, in den Kultur- und Sozialwissenschaften als spekulativer Irrweg erwiesen. Die angelsächsische Gegenreaktion aber - ob in Gestalt des Funktionalismus in Großbritannien oder als historischer Partikularismus in den Vereinigten Staaten - schoss für Lévi-Strauss mindestens ebenso weit über das Ziel eines angemessenen Umgangs mit dem ethnographischen Gegenüber hinaus. Sind wir denn, fragt er "modernen Danaiden gleich, dazu verdammt, endlos und vergeblich Monographie auf Monographie in ein Gefäß ohne Boden zu schütten, ohne je ein stichhaltiges und dauerhaftes Ergebnis zu erhalten?" Natürlich nicht, antwortet er sogleich. Mochte das evolutionistische Projekt einer einheitlichen Menschheitsgeschichte auch gescheitert sein, bedeutete das doch keineswegs das Aus für jede Suche nach universell gültigen Wahrheiten. Die Erkenntnisse einer vergleichenden Ethnologie trügen vielleicht nicht dazu bei, die Anfänge der Menschheit aufzuklären, aber sie würden uns doch helfen, grundlegende Handlungsformen besser zu verstehen. Da spricht wieder der Strukturalist.
Die Geschichte des Strukturalismus muss also nicht ganz neu geschrieben werden. Mit einem Mal aber taucht darin schemenhaft eine Gestalt auf, die Lévi-Strauss stets sorgsam aus seinen Werken zu verbannen verstand: er selbst. Und noch etwas überrascht bei der Lektüre. Gleichgültig ob man sich für die Geschichte ethnologischer Theorien interessiert oder die Aufwertung indigener Kunstformen, für die sonderbare Symmetrie von Handel und Krieg oder die faktische Historizität vermeintlich aus der Zeit gefallener Gesellschaften: Wieder und wieder nimmt Lévi-Strauss Argumentationen vorweg, die der Rest des Faches erst nach dem Vollzug zahlreicher "Wenden" in den letzten zwei bis drei Dekaden entwickeln wird. Den jungen Lévi-Strauss zu entdecken lohnt auch ein Dreivierteljahrhundert, nachdem diese Texte verfasst wurden. THOMAS REINHARDT.
Claude Lévi-Strauss: "Strukturale Anthropologie Zero". Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 392 S., geb.
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