Stellen Sie sich vor, Sie sind ein bekannter Schriftsteller und werden um ein ausführliches Interview gebeten. Sie sollen Auskunft geben über Ihre Interessen und intellektuellen Vorlieben, über die Voraussetzungen und Hintergründe, über Motive und Themen Ihres umfangreichen Werks. Stellen Sie sich vor, Ihnen fällt nichts ein, gar nichts, so sehr Sie sich auch bemühen. Dann muss eben jemand anderer über Sie erzählen. Aber wer sollte das sein? Wer weiß gut genug über Sie und ihre Bücher Bescheid? Im Fall des Schriftstellers Clemens J. Setz fand sich eine Alternative. Aber keine natürliche Person steht hier Rede und Antwort, sondern eine Art künstliche Intelligenz, sein Millionen von Zeichen umfassendes elektronisches Tagebuch - die ausgelagerte Seele des Autors, kurz gesagt: ein Clemens-Setz-Bot. Und was der Befragte selbst im mündlichen Gespräch nicht zu verbalisieren mochte, gibt das Werk allein, völlig losgelöst von seinem Autor, in verblüffender Offenheit preis.
Besprechung vom 15.04.2018
Der Autor und sein Avatar
In "Bot" lässt Clemens J. Setz seine Texte für sich sprechen und zeigt, was man alles finden kann, wenn man nicht richtig sucht
Die wunderbare und beängstigende Welt des Schriftstellers Clemens J. Setz war schon immer eine sehr spezielle Konstruktion, eine erratische Ansammlung von Reflexionen und Beobachtungen, ein Reich, in dem die Dinge, Figuren, Motive ratlos nebeneinanderstehen, verbunden nur durch die Laune des Schicksals, die Freiheit des Wahnsinns - oder auch nur durch das Glück eines Hyperlinks oder einer Konjunktion. In den Romanen, die von dieser Welt erzählen, hat Setz, weil es die Form nun mal verlangt, seinen Stoff meistens zu schrägen Figuren zusammengenäht, hat ihnen jede Menge seltsame Ideen und Macken in die Köpfe gestopft. Wenn er sie dann aufeinander los ließ, kam dabei weniger eine Geschichte heraus, die etwa durch ihre Dramatik oder die Entwicklung der Charaktere beeindruckte; und doch war die bewährte Form des Romans ein angemessen vernünftiger Rahmen, in dem Setz' Fiktionen verrücktspielen konnten.
In seinem gerade erschienenen Buch probiert Setz nun ein neues Verfahren aus, seine Ideen anzuordnen - beziehungsweise in eine kreative Unordnung zu bringen. "Bot - Gespräch ohne Autor" ist das Ergebnis eines gescheiterten Interviews, das die österreichische Lektorin Angelika Klammer 2016 mit Setz führte. Weil beide die Antworten des Autors für unbefriedigend und trivial hielten, kamen sie auf die Idee, sein Journal zu befragen, eine "elendslange" Worddatei, in der Setz seit Jahren Beobachtungen, Reisenotizen und Fundstücke zusammenträgt, eine Art "ausgelagerte Seele", wie er im Vorwort zum Buch schreibt. Mit den zentralen (oder sinnverwandten) Begriffen aus Klammers Fragen durchsuchte Setz seine Datei nach Antworten. Am Ende sollte ein rudimentärer Clemens-Setz-Bot entstehen, angelehnt an das Vorbild des Roboters "Phil", mit dem amerikanische Wissenschaftler den Schriftsteller Philip K. Dick verewigen wollten. "Phil" konnte auf eine Datenbank mit sämtlichen Texten Dicks zugreifen und daraus Antworten auf beliebige Fragen formulieren. In der Kommunikation mit dem Roboter, erzählt Setz in einem Gespräch, entwickelten dessen Gesprächspartner einen "urge to be profound", einen seltsamen Drang, tiefsinnige Fragen zu stellen. Und selbst, wenn die Antworten überhaupt nicht zur Frage passten (oder gerade dann), hatten sie oft das Gefühl, bedeutende philosophische Wahrheiten zu hören. Mit ihm, so dachte Setz, müsste das doch auch klappen.
Das also ist die Entstehungsgeschichte von "Bot" - und selbstverständlich können erfahrene Setz-Leser ihm nicht einmal diese abnehmen. Nie kann man sich bei ihm sicher sein, ob sich ein kurioses Detail der Phantasie des Autors verdankt, Sinne vernebelnder Umstände, einer Fehlfunktion des Geistes oder doch Setz' Blick für real existierende Unglaublichkeiten. Nicht einmal Setz scheint sich da immer so sicher zu sein: Eine Passage in seinem Buch erzählt von einem Besuch im japanischen Skiort Iiyama, ein Ort mit heißen Schwefelquellen und Apfelanbaugebieten, mit Hotels namens "Schi Heil" und Affen im Schnee, eine "absurde Überschneidung Japans und Österreichs". "Es ist wahrscheinlich", schreibt er, "dass ich mir diese Reise innerlich zusammenfantasiere, in Wirklichkeit liege ich im Koma, oder ich bin tot. Natürlich, die Schwefeldämpfe nachts. Vergiftung und Delirium, oder die letzten Kombinationsbemühungen meines sterbenden Gehirns, sein Abschiedskonzert sozusagen, es zeigt noch einmal, was es alles kann, eine intersektionale Mischwelt erfinden, dafür bekam es zu Lebzeiten so manchen Literaturpreis . . ."
Bei "Bot" jedoch, so jedenfalls versicherte der Autor höchstpersönlich auf der Leipziger Buchmesse, habe sich wirklich alles so zugetragen, wie es im Vorwort beschrieben wird. Und auch die Suchergebnisse für "Angelika Klammer" im Internet deuten darauf hin, dass Setz sich die Lektorin nicht einfach ausgedacht hat. Wobei die Frage, ob die Rahmenhandlung dieses Buches stimmt, viel unwichtiger ist, als jene, ob das Verfahren literarisch elegant und ergiebig genug ist - oder nur eine nervige Pose. Wer Setz' Experiment etwa als eine Art literarischen Turing-Test versteht, der erforschen will, ob der Fortschritt der künstlichen Intelligenz der ohnehin nur noch als Zombie existierenden Instanz des Autors nicht endgültig den Todesstoß verpasst, kommt dabei nicht besonders weit - schon deshalb, weil die Software des Buches dazu viel zu dumm ist. Interessant ist eher, wie "Bot" charmant sämtliche literaturseminarhaften Ambitionen unterläuft und trotzdem implizit die Frage aufwirft, was passiert, wenn man einen Teil des kreativen Prozesses an Maschinen delegiert. Was Setz betrifft, erweist sich der Computer als erstaunlicher Seelenverwandter: Die assoziativen Ergebnisse der Datenbanksuche ahmen Setz' abschweifende Erzählkompositionen mit gespenstischer Ähnlichkeit nach. Die Arbeitsweise seines Bots hat nichts mit kühler Logik oder Rationalität zu tun, im Gegenteil: Sie erinnert daran, dass bei der Analyse von Daten auch Schönheit generiert werden kann. Computer haben bekanntlich ein beeindruckendes Talent dazu, verborgene Zusammenhänge zu entdecken. Wenn man sie nicht nur nach kommerziell verwertbaren Mustern suchen lässt, entdecken sie Erkenntnisse von wunderbar unberechenbarer Originalität, eine Poesie der Korrelationen gewissermaßen.
Es stört deshalb auch kaum, dass die Antworten des Clemens-Setz-Bots nur in den seltensten Fällen mit Klammers Fragen zu tun haben. Es bleibt den Lesern überlassen, die Verbindungen zwischen den Journal-Fragmenten zu finden: Zwischen dem Kometen Encke, der die Erde zerstörte und damit den Blick der Menschen in den Himmel richtete und sie lehrte, Geschichten zu erzählen und dem Autor Robert Shields, dem seine krankhafte Obsession, alles aufzuschreiben, zum Verfasser des längsten Tagebuchs der Welt machte; zwischen einem Japan, das Österreich spielt, und einer Steiermark, die Setz sich als Schauplatz der Geschichten von Gabriel García Márquez ausmalt, mit dem "Stauderer Franz, der den Teufel (,Deifö') gesehen hat" und zwei Reisenden, "die Vernunft und Wissenschaft in die tiefgläubige Bergregion bringen wollten", aber leider "vom Tatzelwurm angefallen und geblendet" wurden; zwischen Stiefmütterchen und Günter Grass; zwischen all den Tieren, für die Setz, dessen Figuren oft als seelenlos wahrgenommen werden, ein so großes Herz hat, sprechende Elefanten, Rilkes Panther, Weltraumfische - und den bemitleidenswerten Thomassons, von der Zeit vergessenen Gebilden, die keine Funktion mehr erfüllen und trotzdem noch gepflegt werden: Treppen, die ins Nichts führen, nutzlose Hebel an Gebäudemauern, Romane von Goethe.
Er wollte beweisen, hat Setz in einem Interview gesagt, "dass es mich nicht braucht". Das klingt zunächst nach einem seltsamen Wunsch, doch im Prinzip entspricht es der Ambition jedes Schriftstellers: Jedes Buch ist schon ein Avatar des Autors. "Ich glaube, Leute schreiben Bücher, um vor den anderen Menschen den Turing-Test zu bestehen. Um zu sagen: Ich bin auch ein Mensch wie ihr, ich habe einen Anschluß an euch", hat Setz in einem Gespräch mit dem japanischen Roboterentwickler Hiroshi Ishiguro gesagt. Je einzigartiger ein Autor sei, so fuhr er fort, desto leichter könne man ihn nachbauen. So steht man vor "Bot" wie vor dem Androiden-Alter-Ego, das Ishiguro von sich konstruiert hat, auch eine Art autobiographisches Projekt. Und wie bei solchen künstlichen Zwillingen üblich, kommt es zum Effekt des "Uncanny Valley", einer Unheimlichkeit, die immer dann auftritt, wenn sich Dinge zu ähnlich sehen, die Simulation dem Original, die Wirklichkeit der Fiktion oder der Autor seinen Figuren.
In "Bot" hat Setz ein Modell von sich gebaut, das ihm womöglich gerade deshalb so nahe kommt, weil es so bruchstückhaft und unkonzentriert ist. Zu gerne wüsste man, welche Schätze sich noch im Datenschatz seines Journals verbergen oder ob sein Roman über die Natur, den er erwähnt, wirklich so furchtbar ist, dass ihn niemand veröffentlicht und ihn selbst seine besten Freunde vor der Publikation warnen. Man könnte fast ein bisschen Mitleid mit den Texten bekommen, nach denen für das Buch niemand gesucht hat, es wäre schade, wenn auch sie zu Thomassons werden. Oder das Schicksal jener sogenannten Nihilartikel teilen müssten, die Setz in seinem Buch beschreibt, jener frei erfundenen Einträge in einem Lexikon, wie etwa die Loriotsche "Steinlaus" im "Pschyrembel". So ein fingierter Lexikonartikel, schreibt Setz "lebt, zumindest im Idealfall, umgeben von vollkommener Stille. Niemand sucht nach ihm, niemand ,hört' seinen Ruf, seine Aussage."
Als Kind, so erzählte Setz einmal vor ein paar Jahren im Gespräch, sei er immer derjenige gewesen, den beim Versteckspielen niemand gesucht habe. Aber wer ihm auf die Spur kommen will, findet ihn sowieso nur, wenn er ihn nicht sucht.
HARALD STAUN
Clemens J. Setz: "Bot. Gespräch ohne Autor". Suhrkamp, 166 Seiten
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