Besprechung vom 23.10.2021
Adams Erbe
Vom Tableau zum Stammbaum: David Bainbridge legt eine visuelle Geschichte der abendländischen Versuche vor, das Tierreich klassifikatorisch zu ordnen.
Die Natur überwältigt uns mit einer grenzenlos erscheinenden Vielfalt, und es ist allem Anschein nach ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, Ordnung in diese Vielfalt zu bringen. Die Grundprinzipien der ersten Klassifikationen waren wohl überaus pragmatischer Art. Es dürfte unseren Vorfahren einen Überlebensvorteil gebracht haben, erkennen zu können, welche Arten essbar sind und welche nicht oder welche Tiere und Pflanzen gefährlich sind. In der Version der Wissenschaftsgeschichte der Biologie, wie sie von Evolutionsbiologen wie Ernst Mayr oder George Gaylord Simpson verfasst wurde - mit enormer Wirkung auf die Wissenschaftsphilosophie -, stand eine solche auf dem Common Sense beruhende und auch bei Aristoteles zu findende Klassifikation von Lebewesen einer wissenschaftlichen Klassifikation im Weg. Erst seit der Renaissance sei sie Schritt für Schritt überwunden worden.
Der Anthropologe Scott Atran hat in einem einflussreichen Buch über die kognitiven Grundlagen der Naturgeschichte aber überzeugend argumentiert, dass traditionelle, umgangssprachliche Systeme der Namensgebung von Organismen den Rahmen für wissenschaftliche Systeme der Klassifikation und Taxonomie bereitstellten. Denn dass Organismen in diskrete Gruppen - Arten - eingeteilt werden können, dass jede Art eine "Essenz" hat, die für ihr typisches Erscheinungsbild, ihr Verhalten und die Wahl des Lebensraumes verantwortlich ist, und dass diese Arten in größere Gruppen zusammengefasst werden können, ist Common Sense und frühen wissenschaftlichen Klassifikationen gemeinsam.
Der britische Veterinärmediziner und Wissenschaftsautor David Bainbridge erzählt in seinem Buch eine visuelle Geschichte der Klassifikation von Tieren. Er widmet nur wenige Seiten den frühesten Klassifikationsversuchen, die in moralisierenden und allegorischen Bestiarien und Weltkarten ihren Ausdruck fanden. Diese Klassifikationen beruhten auf den gerade wiederentdeckten aristotelischen Schriften, nutzten aber Kategorien, die von den Neuplatonikern geerbt waren. Empirie spielte bei den meisten dieser Werke eine nur äußerst geringe Rolle. Überraschenderweise erwähnt Bainbridge nicht eine wichtige, Mitte des dreizehnten Jahrhunderts entstandene Ausnahme von diesem Muster: "De arte venandi cum avibus", das "Falkenbuch" von Friedrich II. mit seinen neunhundert Abbildungen und einer Reihe von erstaunlichen Äußerungen, die spätere Probleme der Taxonomie und Klassifikation vorwegnehmen, zum Beispiel, dass verschiedene Arten den gleichen Namen tragen können oder eine Art mit zahlreichen verschiedenen Namen belegt wird. Der Autor spekulierte sogar über die Variabilität von Arten und ihre Ursachen, eine für die Zeit einzigartige Sichtweise, die wohl vor allem seiner durch und durch empirischen Herangehensweise geschuldet ist - eine Eigenschaft, die er mit Darwin gemeinsam hatte.
Naturkundler wie John Ray, Carl von Linné, Jean-Baptiste de Lamarck oder Georges Cuvier waren es, die das Nachdenken und Forschen über die natürliche Ordnung nachhaltig prägten und deren bahnbrechende Beiträge zur Taxonomie, vergleichenden Morphologie und Embryologie auch Charles Darwin beeinflussten. Doch die Historisierung des Lebens durch Darwin veränderte die visuelle Kultur der Biologie grundlegend - der Stammbaum wurde zum zentralen visuellen Element. Der größte Teil von Bainbridges Buch ist den modernen visuellen Werkzeugen der Biologie gewidmet, die Ordnung in die Vielfalt des Lebens zu bringen versprechen. Neben allen möglichen Variationen von Stammbäumen tauchen auch Chromosomenkarten oder filigrane Abbildungen embryologischer Entwicklungsserien auf. Ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, zeigt Bainbridge, welche zentrale Rolle räumliche und zeitliche Beziehungen stiftende visuelle Repräsentationen in der Biologie spielen.
Der Autor ist Veterinärmediziner, und daher ist es nachvollziehbar, dass sich sein Buch auf die Klassifikation von Tieren beschränkt. Nichtsdestotrotz ist es ein wenig bedauernswert, dass Pflanzen, deren Klassifikation eine eigene visuelle Tradition begründete, außen vor bleiben. Eine bedeutendere Lücke reißt jedoch die Vernachlässigung von Ordnungssystemen, die ihren Ursprung außerhalb von Europa und dem Nahen Osten haben. Solche alternativen Entwürfe können sich gut eignen, verborgene Grundannahmen und die Kontextabhängigkeit von Klassifikationssystemen zu demonstrieren. Klassifikationen aus dem frühen China beruhten nicht auf der Morphologie der Tiere, sondern ordneten Tiere in ein rituelles Weltbild ein oder versuchten zu bestimmen, in welchem Verhältnis Tiere - und auch der Mensch - zur kosmischen Ordnung standen: Taxonomisierung bestand in der Integration von Teilen in ein kosmisches Ganzes und nicht in der Differenzierung eines Ganzen in diskrete und eindeutig benannte Teile.
Aber trotz dieser Einwände ist Bainbridges reich illustriertes Buch zu empfehlen. Die abendländischen Versuche, Ordnung in den Formenreichtum des Lebens zu bringen, waren vielfältig und methodologisch äußerst ausgeklügelt, und Bainbridge gelingt es hervorragend, diese Tradition fundiert und anschaulich darzustellen. THOMAS WEBER
David Bainbridge: "Tiere ordnen". Eine illustrierte Geschichte der Zoologie.
Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow. Haupt Verlag, Bern 2021. 256 S., Abb., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.