Besprechung vom 01.12.2022
Gern Anschluss unter dieser Nummer
David Wagner erzählt eine Weihnachtsgeschichte als hundertseitiges Telefongespräch zwischen Vater und Tochter
Bald ist Weihnachten, und ein Vater ruft seine mittlerweile flügge gewordene Tochter an, um in Erfahrung zu bringen, ob sie zum Fest aus ihrem Studienort Heidelberg ins heimatliche Berlin zurückkehren wird. Von der Mutter der Tochter lebt der Mann mittlerweile getrennt, andere Kinder gibt es nicht, also steht eine Art elterlicher Verteilungskampf um die Gunst der jungen Frau an - sofern sie denn überhaupt anreisen wird. Der Vater bereitet dafür mit dem Anruf das Terrain.
"Familiengeschichten der anderen sind fast immer langweilig. Nur die eigenen sind interessant", sagt die Tochter irgendwann. Doch ihr eigenes Gespräch mit dem Vater straft sie Lügen, denn man folgt dem Verlauf der Unterhaltung mit Spannung. Das hat einmal mit der Form zu tun: David Wagner legt sie konsequent in Rede und Gegenrede an, ein einziges Mal, und das ganz zu Beginn, gibt es eine Erzählerstimme: die des Vaters, der uns mitteilt, dass er seine Tochter anruft und wo sie sich aufhält. Danach entwickelt sich ein einziger Dialog über hundert Seiten, bei dem man dranbleiben muss, um zu wissen, wer da jeweils spricht. Wobei es natürlich Hinweise genug gibt, denn Vater und Tochter kokettieren mit den jeweiligen Marotten. Man merkt den beiden Figuren den Spaß an, den ihr Verfasser bei der Niederschrift gehabt haben wird.
"Alle Jahre wieder" heißt dieses kleine Buch. Es ist das jüngste in einer 2018 begonnenen Reihe von Weihnachtserzählungen, die in der Edition Chrismon erscheint. Den Beginn machte Zsuzsa Bánk, dann folgten Jana Hensel, Rainer Moritz sowie Alina Bronsky, und nun folgt in dieser Liste namhafter Autoren David Wagner. Dessen Geschichte ist eingebettet ins autofiktionale Gespinst seiner Prosa, das schon seit dem vor 22 Jahren erschienenen Debütroman "Meine nachtblaue Hose" fasziniert. Die Figuren des Vaters und der Tochter schließen mit ihrem Gespräch unmittelbar an die in "Der vergessliche Riese" (2019) geschilderte Familienkonstellation an.
Nicht nur Wagner-Kenner kommen auf ihre Kosten; dafür ist dieser Schriftsteller viel zu versiert. Die scheinbar schlichte Form des alltäglichen Telefongesprächs (wobei dessen Dauer nur in unseren Zeiten von Flatrates vorstellbar ist) wird verfeinert durch eine Erzählkunst der Anspielung, die dem aufmerksamen Leser auch ohne Vorkenntnisse des wagnerschen Figurenkosmos alles Wesentliche über die Beteiligten enthüllt: biographisch und psychologisch. Dabei gibt es keine Leichen im Keller; es ist eine ganz normale Familie, von der hier erzählt wird, mit zahllosen Reminiszenzen an gemeinsame Erlebnisse aus den einundzwanzig Lebensjahren der Tochter. Die neckt ihren Vater, und der neckt zurück, es wird bisweilen gefochten, aber immer nur mit dem Florett, und keiner sticht zu. Trotzdem - oder gerade deshalb - ist das Buch ein Lesevergnügen. Und als Weihnachtsgeschichte geht sie natürlich auch gut aus. apl
David Wagner:
"Alle Jahre wieder".
Edition Chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt, Leipzig 2022.
112 S., 3 Abb., geb.
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