Besprechung vom 10.12.2024
Eine KI als rettender Engel
Titus Müllers Ausflug ins Weihnachtsgeschichtenfach
Alle Jahre wieder, und das immerhin schon seit 2018, bringt die Edition Chrismon eine eigens für sie aus literarisch prominenter Feder verfasste Weihnachtserzählung heraus: Die von 2022 trug sogar den Titel "Alle Jahre wieder" und stammte von David Wagner, die anderen Geschichten verfassten Zsuzsa Bánk, Jana Hensel, Rainer Moritz, Alina Bronsky und Susanne Niemeyer. In diesem Jahr ist Titus Müller an der Reihe, der in jüngster Zeit mit seiner zeithistorischen deutsch-deutschen Thriller-Trilogie "Die Spionin" große Publikumsresonanz gefunden hat. Man mochte in ihm nicht den naheliegendsten Kandidaten fürs Abfassen einer Weihnachtsgeschichte sehen, aber das täuschte. Müller hat die allgemeinen Erwartungen an dieses Genre ebenso erfüllt wie die speziellen seiner Leser. Und dann noch etwas darüber hinaus geleistet.
Zunächst zu den speziellen Erwartungen von Titus-Müller-Fans: "Das verborgene Weihnachtskind" ist ein in halbnaher Zukunft angesiedelter Spannungsroman, in dem ein dreiköpfiges Gangsterkommando ein Appartementhaus überfällt, um die kleine Tochter eines einflussreichen Bewohners zu kidnappen. Drei von dessen Nachbarn tun sich zusammen, um das Mädchen zu verstecken, doch besonders hartnäckigen Widerstand gegen die brutalen Eindringlinge leistet die hausinterne Künstliche Intelligenz (wie gesagt: Handlungszeitpunkt ist eine halbnahe Zukunft; weitere Science-Fiction-Elemente sind Rohstoffabbau im Weltraum und im Stadtverkehr eingesetzte Gleiter), die sich auf heroischste Art und Weise aufopfert. Und damit sind wir schon im Übergang zu den allgemeinen Erwartungen.
Warmherzig sollte eine Weihnachtsgeschichte sein. Titus Müller trägt dem nicht nur durch die Hilfsbereitschaft des nachbarlichen Trios Rechnung, sondern auch dadurch, dass die Frau daraus heimlich in den einflussreichen Mann verliebt ist und auch die beiden männlichen Mitstreiter jeweils Vereinsamung zu bewältigen haben - über den gemeinsamen Einsatz für das Mädchen finden natürlich alle aufs Freundschaftlichste zusammen. Dazu gibt es einen dem bislang agnostisch aufgewachsenen Kind erteilten Grundkurs in biblischer Heilsbotschaft, der ein wenig schlicht ausfällt, aber Müllers Buch erscheint ja in einem christlichen Verlag.
Die originellste Figur indes ist die KI. Nicht nur wegen ihrer aus programmiertem Pflichtbewusstsein geleisteten Selbstlosigkeit, sondern mehr noch, weil sie beim Abwehrkampf all ihres Wissens beraubt wird und sich im Anschluss darum bemühen muss, ihr nun sinnlos erscheinendes Dasein irgendwie zu meistern. Das ist eine geschickt konstruierte Parallele zum Nachlassen menschlicher Kräfte im Alter und zugleich ein Plädoyer für die Kraft gemeinsamer Bemühungen bei der Bewältigung mentaler Defizite. "Das verborgene Weihnachtskind" ist eine verborgene Demenz-Fiktion mit optimistischem Tenor und gerade deshalb höchst tröstlich.
Witzig ist sie auch, weil Müller lustvoll mit Klischees guter und böser Menschen spielt. Außerdem zum Vorlesen geeignet. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit. apl
Titus Müller:
"Das verborgene
Weihnachtskind".
Edition Chrismon,
Leipzig 2024.
102 S., geb.
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