Besprechung vom 05.05.2020
Fragen kostet
Drago Jancars meisterlicher Roman "Wenn die Liebe ruht" über den Zweiten Weltkrieg in Slowenien
Der Auftrag, den der slowenische Partisan Valentin in einer kalten Winternacht erfüllen soll, scheint nicht besonders kompliziert: einen "Verräter" aus dessen Haus rufen und erschießen. Doch Valentin zögert, weil er nicht auf diese Weise töten will, er verhält sich ungeschickt, sein Opfer ist gewarnt, vom Lärm werden die Nachbarn wach, und dass der Auftrag am Ende dann doch noch erfüllt wird, liegt nur entfernt an Valentin selbst. Da er dem Sicherheitsmann der Partisanen ohnehin verdächtig ist, muss er nach dieser Aktion, die eigentlich seine Reputation festigen sollte, um sein Leben fürchten. Vor allem aber hat der Auftrag in ihm eine beängstigende Erinnerung wachgerufen: Als Kind hatte er einmal das plötzliche Gefühl, durchs Fenster beobachtet zu werden - obwohl der Mann, der ihn vermeintlich anstarrte, dort eigentlich gar nicht hätte sein können, schließlich lag die Wohnung im ersten Stock. Nun, im Belauern seines Opfers vor dessen Fenster, erkennt er plötzlich in der damaligen Vision ein Abbild seiner heutigen Existenz.
Der slowenische Autor Drago Jancar, geboren 1948 in Maribor und inzwischen weit über seine Heimat hinaus als Erzähler und Essayist gefeiert, erzählt - nach "Der Baum ohne Namen" oder "Die Nacht, als ich sie sah" - in seinem neuen Roman "Wenn die Liebe ruht" ein weiteres Mal von den Jahren der deutschen Okkupation Sloweniens im Zweiten Weltkrieg. Diesmal steht eine Liebesgeschichte im Zentrum, wie sie anrührender und gewöhnlicher nicht sein könnte und die, wie man rasch ahnt, in solchen Zeiten keine Chance auf Dauer hat, gerade weil die Liebenden gegen die Wucht der Ereignisse ankämpfen und so die Dinge nur noch schlimmer machen. Hinzu kommt, dass der slowenische Geodät Valentin die deutsche Besatzung der Maribor-Region nicht erträgt, die auf den Anschluss ans Deutsche Reich abzielt, und zu den Partisanen geht, die sich im nahen Pohorje-Gebirge verstecken, während der Medizinstudentin Sonja nichts übrigbleibt, als auf seine seltenen und gefährlichen Besuche in der nun offiziell "Marburg" genannten Stadt zu warten.
Zur Geschichte der Liebenden gehört, dass sie von Beginn an ihren Briefen kurze Verszeilen anfügen, gern aus dem romantischen Liebesepos "Mai" von Karel Hynek Mácha (F.A.Z. vom 26. März) - kein gutes Omen, schließlich wird dort der Liebende von seiner Braut betrogen und stirbt unter dem Beil des Henkers. Der Titel von Jancars Roman ist einem ebenfalls hier zitierten Gedicht Lord Byrons entnommen, überliefert in einem 1817 geschriebenen Brief an Thomas Moore und verfasst nach dem 29. Geburtstag des Autors. "For the sword outwears its sheath", heißt es in der mittleren von drei Strophen, "And the soul wears out the breast, / And the heart must pause to breathe, / And Love itself have rest."
Dass Liebende an das Ausruhen der Liebe auch in harten Zeiten naturgemäß nicht glauben mögen, macht der Roman sehr deutlich, mit allen fatalen Konsequenzen, und auch, dass Poesie ihr Potential als Trostmittel rasch erschöpft. Stilmittel, die schon frühere Texte Jancars prägen, erscheinen verfeinert und noch einmal effizienter eingesetzt als bisher. Da ist zum einen die Rolle, die Bilder für das Erzählen spielen, etwa eine Fotografie des Paares, in glücklicheren Tagen in Maribor aufgenommen und nun ein fortdauernder Fluchtpunkt für das bröckelnde Liebeskonzept der beiden - Valentins Exemplar wird irgendwann einmal auf einem Partisaneneinsatz buchstäblich den Bach heruntergehen. Auf einer romanartistischen Ebene bedeutsamer ist der Beginn der Erzählung aus der Beschreibung eines Fotos, das drei Protagonisten kurz vor einer entscheidenden Szene zeigt und aus dem Standbild in Bewegung gerät - es markiert die historische Ferne und überbrückt sie zugleich, so wie die häufigen Zeitsprünge, die Rückkehr und Wiederaufnahmen die Gleichzeitigkeit des Geschilderten betonten, das seine Wirkung bis in die Gegenwart entfaltet. Und dass es für wesentliche Protagonisten des Romans keine saubere Trennung zwischen Tätern und Opfern gibt, symbolisiert eben der unheimliche Gast am Fenster, der sich als Teil der eigenen Person entpuppt, kaum zufällig über das Medium einer Glasscheibe vermittelt, die vor einem dunklen Hintergrund jederzeit zum Spiegel werden kann.
"Fragen kostet nichts, oder?" Das sagt Sonjas Freundin bereits auf der zweiten Seite des Romans, und von nichts erzählt der so ausgiebig, so hoffnungslos, so unerbittlich wie von den ungeheuren Kosten, die eine Frage wie die von Sonja gestellte verursachen kann: für die Liebenden selbst, für den, dem sie gestellt wird und der dadurch in die Versuchung gerät, seine Macht noch mehr auszukosten als ohnehin schon, für Verwandte, für Kampfgefährten, für gänzlich Unbeteiligte. Aber Jancars Roman lässt keinen Zweifel daran, dass es ohne diese Frage wahrscheinlich genauso schlimm gekommen wäre - für den einen vielleicht mehr, für den anderen weniger, in der Summe aber wohl vergleichbar. Wo willkürlich Geiseln erschossen werden, ist das Überleben Glückssache, und wo winzige Rädchen in einem mörderischen Räderwerk über Schicksale entscheiden, auch.
Dass jedenfalls hinter Gewissheiten, gemünzt in Merksätze wie den vom kostenlosen Fragen, schon im Moment, wo sie ausgesprochen werden, die garstige Fratze einer aus den Fugen geratenen Zeit aufblitzt, diese Erkenntnis prägt den gesamten Roman. Und wenn man aus all den jäh beendeten oder für immer zerstörten Lebensläufen, die hier in bitterer Meisterschaft dargeboten werden, noch so etwas wie einen Sinn oder gar Trost ziehen wollte, dann findet er sich in einer Szene, angesiedelt lange nach dem Krieg. Die alt gewordene Sonja besucht eine Buchhandlung, in der die Lesung eines jungen Autors aus seinem Maribor-Roman "Nordlicht" stattfinden soll - ein solches Buch hatte Jancar 1984 publiziert. Man kann das als Hinweis darauf lesen, wie er an den Stoff für diesen großen Roman gekommen ist.
TILMAN SPRECKELSEN
Drago Jancar: "Wenn die Liebe ruht". Roman.
Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut. Zsolnay Verlag, Wien 2019. 400 S., geb.
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