Die Macht des mittelalterlichen Frauenbildes - und wie wir uns endlich von ihm befreien
Wie sieht die ideale Frau aus? Wie sollte sie lieben, fühlen, sein? Über diese Fragen zerbrachen sich im Mittelalter vor allem Männer den Kopf. Attraktiv wie die mythische Helena von Troja wünschten sich die etablierten Denker die Frauen. Zugleich verspotteten sie »Evas Töchter« als übersexualisierte Sünderinnen - unersättlich und von Natur aus schwach.
Die Historikerin Eleanor Janega stellt diesen männlichen Theorien reale Frauen gegenüber - berühmte wie Eleonore von Aquitanien und Hildegard von Bingen, aber auch solche, deren Leben in den Quellen verborgen blieben. Wir erfahren, wie die Frauen dieser Zeit wirklich lebten: Sie waren nicht nur Mütter, sondern auch fleißige Bäuerinnen, Bierbrauerinnen, Textilarbeiterinnen, Künstlerinnen, Kunsthandwerkerinnen. Als solche ebneten sie den Weg für neue Ideen über die Natur, den Intellekt und die Fähigkeiten von Frauen.
Die ideale Frau zeigt, wie mittelalterliche Vorstellungen von Weiblichkeit entstanden und fragt, wie es sein kann, dass sie ihre Wirksamkeit bis heute nicht verloren haben. Wollen wir uns nicht endlich von den einengenden Geschlechterklischees befreien?
Besprechung vom 11.06.2024
Zuerst das Haar, dann gleich die Augenbrauen
Eleanor Janega nimmt Anlauf im Mittelalter, um langlebige Vorstellungen von Weiblichkeit einzuklammern
Pädagogen wie der Chevalier de la Tour Landry, Krieger und Vater aus dem vierzehnten Jahrhundert, erzählten gerne Geschichten, um ihren Botschaften Gewicht zu verleihen. Ein Witwer, so belehrte dieser Ritter seine Töchter, trauerte so sehr um seine verstorbene Ehefrau, dass er einen frommen Eremiten beauftragte, betend Kontakt mit der Toten aufzunehmen und so zu erfahren, wie es ihr im Jenseits ergeht. Das Ergebnis war verstörend, denn in seiner Vision sah der fromme Mann, dass die Verstorbene fürchterliche Qualen erleiden musste: Durch Augenbrauen und Stirn stieß ihr ein Dämon Dolche und brennende Nadeln tief in den Schädel, während ein anderer ihr Gesicht zernagte. Der Eremit ertrug kaum die Ansicht und die entsetzlichen Schmerzensschreie, die die Frau mit jedem neuen Dolchstoß ausstieß. Angst und Abscheu waren, was er dem Witwer zu vermelden hatte.
Was in aller Welt hatte die Ehefrau Schlimmes getan, dass sie im Jenseits so sehr leiden musste? Sie hatte sich an all den Stellen, wo nun die glühenden Eisen in sie eindrangen, zu Lebzeiten ein Haar ausgezupft, hatte schön sein wollen und sich damit auch in ihrem Stand verortet, denn zu dichte Augenbrauen, überhaupt Körperbehaarung, galt als Zeichen der unteraristokratischen Schichten. Doch wenn die Töchter des Chevalier aus dieser Geschichte die erwünschte Lehre zogen und ihre Augenbrauen in Ruhe ließen, konnten sie in Schwierigkeiten geraten: Behaarung minderte die Heiratschancen, weil sie als Zeichen für verminderte Fruchtbarkeit verstanden wurde. Die "Trotula", eine medizinische Handschrift aus dem zwölften Jahrhundert, gab Enthaarungstipps, warnte aber vor "übermäßiger Hitze", die die ätzkalkhaltigen Substanzen hervorrufen konnten. Der Traktat empfahl, zur Linderung Rosen- oder Veilchenöl auf die geschundenen Hautpartien aufzutragen.
Derartige Widersprüche lösen wir heute auf, indem wir uns klarmachen, dass der weibliche Körper der Gegenstand nicht eines, sondern mehrerer divergierender mittelalterlicher Diskurse war, die unvermittelt und unverträglich nebeneinanderstanden. Doch Eleanor Janegas Buch, so leidenschaftlich wie unterhaltsam geschrieben, richtet sich nicht an Diskurshuber aus dem akademischen Milieu, sondern an eine breite weibliche Leserschaft. Ihre Botschaft ist: Fügt euch nicht den Erwartungen, die an euren Umgang mit eurem Körper, an eure Lebensweise, an eure Berufswahl gerichtet werden! Lebt nicht im Einklang mit Traditionen, an die ihr selbst nicht glaubt! Misstraut allen evolutionsbiologisch grundierten Behauptungen, die besagen, dass sich Partnerwahl, Sorge ums Äußere oder Mutterliebe aus der Entwicklung der menschlichen Spezies heraus erklären lassen.
Denn die Erwartungen an Frauen sind für Janega frappierend langlebig und dennoch variabel, sofern sie in unterschiedlichen historischen Kontexten unterschiedliche Bedeutung erlangten. Sie waren immer kulturell konditioniert, was auch bedeutet, dass man sie künftig nach der Maßgabe der Vernunft verändern könnte. Und sie stecken überdies voller jeweils zeittypischer Paradoxien und Halbwahrheiten: Der gelehrte Blick auf die Frau schulte sich während des Mittelalters an der antiken Philosophie, vor allem anhand von Aristoteles, veranlasste aber wegen der ungleichen Bildungschancen nur wenige Frauen wie Hildegard von Bingen oder Christine de Pizan dazu, selbst Stellung zu beziehen. Gleichzeitig erweisen sich ungelehrt-weltliche Texte über Frauen als verblüffend homogen, wenn es um die Schönheit des weiblichen Körpers geht.
Als ob sie dieselbe Checkliste vor Augen gehabt hätten, schwärmten männliche Autoren erst vom Haar der Schönen, dann von ihrer Stirn, ihren Augenbrauen und Augen, Nase, Mund und Zähnen über Arme, Brüste, Bauch und Beine bis zu den Füßen. Bilder von weiblichen Heiligen in den Kirchen folgen denselben Idealen. Ein Straßburger beschwerte sich 1520 darüber, dass die "anschauwung der fräwlichen bildungen" in Männern "böse gedancken" weckt. Das hat sicher auch damit zu tun, dass der im Mittelalter weitverbreitete Glaube an eine zügellose weibliche Libido in der männlichen Psyche ein unheiliges Gemisch aus Angst und Begehren auslöste.
Antithetisch platziert zu Janegas Kapiteln über Schönheit und Sex ist ein langer Abschnitt über die Normalität weiblichen Erwerbslebens in Landwirtschaft, Handel, Gewerbe und künstlerischer Produktion. Die Autorin ist eine Mittelalterhistorikerin, die sich auf das Genre des populären Sachbuchs verlegt hat, sie weiß, wovon sie schreibt - und doch ist der gelungenste Abschnitt ihres unterhaltsamen Buches das Schlusskapitel ("Was bedeutet das für uns?"), der die Linie ihrer Betrachtungen ins 20. und 21. Jahrhundert hinein verlängert.
Die Art, wie moderne Gesellschaften Themen um Sex und Gender formatieren, ist nicht alternativlos: "Die Vergangenheit zu sehen und sie abzulehnen erlaubt uns, uns eine zukünftige Alternative vorzustellen und genau die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um eine gleichberechtigtere Welt zu schaffen." Unter den Mittelalter-Sachbüchern ist dies sicher eines der besseren, auch wenn es mit nur wenigen überraschenden Behauptungen aufwartet. Was man liest, hat man sich schon vorher so gedacht, es erscheint richtig, weil vernünftig. FRANK REXROTH
Eleanor Janega: "Die ideale Frau". Wie uns mittelalterliche Vorstellungen von Weiblichkeit noch heute prägen.
Aus dem Englischen von Karin Schuler. Propyläen Verlag, Berlin 2024.
352 S., Abb., geb.
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