Jeder schweigt von etwas anderem.
Auf den ersten Blick ist Dunkelblum eine Kleinstadt wie jede andere. Doch hinter der Fassade der österreichischen Gemeinde verbirgt sich die Geschichte eines furchtbaren Verbrechens. Ihr Wissen um das Ereignis verbindet die älteren Dunkelblumer seit Jahrzehnten - genauso wie ihr Schweigen über Tat und Täter. In den Spätsommertagen des Jahres 1989, während hinter der nahegelegenen Grenze zu Ungarn bereits Hunderte DDR-Flüchtlinge warten, trifft ein rätselhafter Besucher in der Stadt ein. Da geraten die Dinge plötzlich in Bewegung: Auf einer Wiese am Stadtrand wird ein Skelett ausgegraben und eine junge Frau verschwindet. Wie in einem Spuk tauchen Spuren des alten Verbrechens auf - und konfrontieren die Dunkelblumer mit einer Vergangenheit, die sie längst für erledigt hielten. In ihrem neuen Roman entwirft Eva Menasse ein großes Geschichtspanorama am Beispiel einer kleinen Stadt, die immer wieder zum Schauplatz der Weltpolitik wird, und erzählt vom Umgang der Bewohner mit einer historischen Schuld. »Dunkelblum« ist ein schaurig-komisches Epos über die Wunden in der Landschaft und den Seelen der Menschen, die, anders als die Erinnerung, nicht vergehen.
»Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Beteiligten gemeinsam gewusst. Deshalb kriegt man sie nachher nie mehr richtig zusammen. Denn von jenen, die ein Stück von ihr besessen haben, sind dann immer gleich ein paar schon tot. Oder sie lügen, oder sie haben ein schlechtes Gedächtnis. «
Besprechung vom 19.08.2021
Im Grundriss der Geschichte
Kein Wende- und auch kein Schlüsselroman: Eva Menasses neuer Roman "Dunkelblum" ist etwas Besseres. Auf bitterkomische Weise macht er ein historisches Ereignis zum Hintergrund eines Kleinstadtporträts im Jahr 1989.
Der deutschsprachige Bücherherbst 2021 steht im Zeichen von vier Schriftstellerinnen. Höchst erfolgreichen, aber auch schreibskrupulösen, weshalb deren neue Werke nach jeweils langer Pause ungeduldig erwartet werden. In zehn Tagen erscheint Jenny Erpenbecks Roman "Kairos"; sechs Jahre sind seit dessen Vorgänger "Gehen Ging Gegangen" vergangen. Zwei Wochen danach kommt "Am Menschen muss alles herrlich sein" von Sasha Marianna Salzmann heraus, vier Jahre nach "Außer sich", dem gefeierten Debütroman dieser Autorin. Und noch einmal einen Monat später folgt Julia Francks "Welten auseinander", ein ganzes Jahrzehnt nach "Rücken an Rücken". Den Auftakt aber zu dieser Sequenz langersehnter Bücher macht heute Eva Menasse mit "Dunkelblum", ihrem dritten Roman. Acht Jahre liegt der zweite, "Quasikristalle", mittlerweile zurück.
Es ist das einzige hochkomische Buch in diesem Quartett, doch zugleich ist es - dem Titel gemäß - eine tieffinstere Geschichte. Eine, die am Epocheneinschnitt von 1989 angesiedelt ist, und das auch noch an der ungarisch-österreichischen Grenze, die im damaligen Sommer zum Sehnsuchtsort wurde: Mit dem Zustrom von Fluchtwilligen aus der DDR hierher und der zeitweisen Öffnung des Eisernen Vorhangs für sie begann der Kollaps des Ostblocks. Aber "Dunkelblum" ist kein Wenderoman. Sein Thema reicht weiter zurück ins zwanzigste Jahrhundert.
Vielen ist angesichts dessen unheimlich zumute in Dunkelblum, einer kleinen Grenzstadt im Burgenland, auch dem Bürgermeister Koreny: "Wahrscheinlich ist das nicht wichtig, aber die Tochter vom Malnitz, die jüngste, die goscherte, weißt eh, die fragt jetzt dauernd herum wegen irgendwelchen uralten Geschichten, die will ein Museum machen oder zumindest eine private Ausstellung auf dem Grundstück ihrer Mutter, in Ehrenfeld. Allerdings ist da gerade der Stadel abgebrannt . . . Unserer Frau Balaskó hat sie gesagt, sie sucht nach Dunkelblumer Kriegsverbrechern, stell dir das vor, Kriegsverbrecher, bei uns! Das Mädel ist Anfang zwanzig, früher haben sich die jungen Leute für was anderes interessiert, für Tanzen und Flirten . . ." An diesem Zitat ist vieles charakteristisch für den ganzen Roman.
Einmal die Mündlichkeit des Stils: "Dunkelblum" ist ein Vielstimmengebilde, ein rundes Dutzend Haupt- und etliche Nebenfiguren kommt in Worten und Gedanken zur Sprache, und nicht selten klingt es, so wie hier, nach den "Brenner"-Kriminalromanen von Wolf Haas - schon der lokalbedingt zwingenden Austriazismen wegen, für deren Verständlichkeit beim bundesdeutschen Publikum ein siebenseitiges Glossar sorgt. Aber es gibt spät im Roman auch eine bewusst gesetzte Hommage an Haas, als dessen signature sentence "Jetzt ist schon wieder was passiert" plötzlich in indirekter Rede aufblitzt. Eva Menasse stellt sich mit Tonfall und Tönung ihres Schreibens in eine lange spezifisch österreichisch schwarzironische Tradition von Kraus und Musil über Doderer und Lernet-Holenia bis hin zu Hans Lebert oder eben Haas, und den epischen Atem dieser Autoren hat sie auch. 524 Seiten beweisen es.
Dann ist in der eben zitierten Passage der Gegensatz des Landsmannschaftlichen in Dunkelblum angesprochen. Das Burgenland kam erst nach dem Ersten Weltkrieg zu Österreich, vorher gehörte es zum ungarischen Reichsteil, und dorther stammen die Familiennamen Balaskó und Koreny. Malnitz dagegen ist slawischer Herkunft, und selbstverständlich hat es in Dunkelblum auch deutsche Namen: Rehberg etwa oder Reschen. Und Grün. Doch Antal Grün, der Greißler (Gemischtwarenhändler) des Ortes, ist der einzige nach dem Krieg zurückgekehrte Jude. "Wir waren einundfünfzig", sagte Antal lächelnd und mit geschlossenen Augen, "darunter ein achtzigjähriger Rabbi und mehrere Kinder. Und er erzählte dem Doktor Sterkowitz von seiner Nacht auf dem Wellenbrecher." Dieser Doktor praktiziert übrigen im Haus seines jüdischen Vorgängers.
Ganz allmählich kehrt im Roman dann auch die Vergangenheit nach Dunkelblum zurück. Vor allem deren Schatten. Der im Zitat angesprochene Brand des Stadels erweist sich als Menetekel, denn in seiner Nähe hatte sich gegen Ende des Krieges etwas abgespielt, was bis heute beschwiegen wird. Hintergrund von Menasses Romanhandlung ist ein tatsächliches Ereignis im Burgenland, das 2007 durch einen F.A.Z.-Artikel ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit trat: das Massaker von Rechnitz an vermutlich zweihundert jüdischen Zwangsarbeitern (F.A.Z. vom 18. Oktober 2007). Ein Jahr später wurde das Drama "Rechnitz (Der Würgeengel)" von Elfriede Jelinek uraufgeführt, und Eva Menasse begann mit der Vorbereitung ihres Romans. Dunkelblum ist Rechnitz nachempfunden - so weit, dass der Illustrator Nikolaus Heidelbach auf seiner Planskizze des Handlungsortes für die Vorsatzpapiere des Buchs den Grundriss des zerstörten Schlosses von Dunkelblum dem des Sitzes der Grafenfamilie Batthyány in Rechnitz nachbildete. Und auch die Topographie der Umgebung des Romanschauplatzes entspricht dem realen Vorbild.
"Dunkelblum" ist jedoch auch kein Schlüsselroman, es sei denn einer mit einem Schlüssel zu den Dunkelzellen der Geschichte. Menasse bringt einiges daraus ans Licht; bei ihr kann literarisch aus der durch Hans-Jürgen Syberberg dokumentierten Hitler-Begeisterung von Winifred Wagner ein Sermon des örtlichen Altnazis Alois Ferbenz werden, aber ihre eigentliche Absicht ist ein Sittenstück, keine Historiographie. Dazu gehört, dass vieles von dem, was aufgeworfen wird an Schicksalsfragen in "Dunkelblum", persönlichen wie gesellschaftlichen, ungeklärt bleiben wird. Aber auch bezüglich der realen Ereignisse von Rechnitz sind ja etliche Sachverhalte weiterhin offen. Nicht zuletzt, wo die Leichen liegen, obwohl man weiß, dass viel mehr Menschen starben, als man Überreste gefunden hat. Das haben die wirkliche und die Romangeschichte gemein. Und das entspricht dem Naturell der Dunkelblumer, die "böswillig dieses und jenes behaupteten, weil sie gegen Geschichten, die gut ausgehen, seit unvordenklichen Zeiten ein tief eingewurzeltes Misstrauen hegen".
Was sich aber zumindest im Roman "Dunkelblum" klärt, das sind familiäre Konstellationen; vor allem die junge Generation - da hat Bürgermeister Koreny ganz recht - legt großen Aufklärungseifer an den Tag. Und nicht nur seltsam sächselnde Fremdlinge kommen plötzlich von den "Drüberischen", wie man in Dunkelblum die Ungarn nennt, sondern auch Studenten auf Exkursion aus Wien, die sich ungebührlich für die lokalen Geheimnisse interessieren. Menasse entwickelt über die Schilderungen dieser Grabungen nach Gräbern eine allumfassende Wassermetaphorik: Unterirdisch ist alles vernetzt in Dunkelblum, aber auch nichts zu greifen.
Und doch gibt es so etwas wie den tschechowschen Revolver. Das ist hier ein Zeitungsartikel, der sehr früh im Roman von einem Fremden, der sich verdächtig lange im Grenzkaff herumtreiben wird, auf der Anreise im Bus gelesen wurde und 450 Seiten später einen Skandal ins Rollen bringt. Menasse inszeniert ihr Kleinstadtspiegelbild unserer Gesellschaft unendlich viel subtiler als Juli Zeh, deren Romane "Unterleuten" und "Über Menschen" ein ähnlich sozialkritisches Ziel verfolgen.
Menasse hat Zeh auch den Schmäh voraus, ihr Buch ist bitterkomisch. "Jedes Mal, wenn Gott von oben in die Häuser schaut, als hätten sie gar keine Dächer, wenn er hineinblickt in die Puppenhäuser seines Modellstädtchens, das er zusammen mit dem Teufel gebaut hat zur Mahnung an alle, dann sieht er in fast jedem Haus welche, die an den Fenstern hinter ihren Vorhängen stehen und hinausspähen", steht gleich auf der ersten Seite. Aber wo bleibt da neben Gott und Teufel die dritte Baumeisterin von Dunkelblum, die Autorin des Romans? Sie ist nur zwei Sätze später in all ihrem Sarkasmus da: "Man wünschte Gott, dass er nur in die Häuser sehen könnte und nicht in die Herzen." Den Einblick in dunkle Seelen soll eben nur die Literatur wagen. Solche Literatur. ANDREAS PLATTHAUS.
Eva Menasse: "Dunkelblum". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 524 S., geb.
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