Von einem Ort, der die Zukunft hätte sein sollen
Nach Jahren kehrt Heather zurück nach Kolchis. In das Sanatorium, in das sie als Teenager evakuiert wurde - durch eine Zeitreise. Heather leidet seitdem, wie viele Evakuierte, unter »Phantomerinnerungen« und dem Schmerz der Einsamkeit, denn sie hat ein Leben und eine Zukunft zurückgelassen, die sie kaum gekannt hat. Sie hofft, innere Ruhe zu finden, doch auch Kolchis hat sich verändert. Das Sanatorium ist verfallen, die übrig gebliebenen Bewohner haben sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. Matthias, der aus der Zeit der Bauernkriege evakuiert wurde, wird für Heather dennoch zu einem Vertrauten, der ihr zeigt, dass Kapitulation das Ende von Menschlichkeit bedeutet.
Virtuos erzählt Franz Friedrich von einer Zukunft, in der alle verpassten Chancen der Vergangenheit präsent sind. Aber auch von Freundschaft, Gemeinschaft und dem unstillbaren Begehren nach Veränderung.
Besprechung vom 04.09.2024
Gerettet wird nur, wer die Zukunft nicht geprägt hätte
Allseits anerkanntes Berufsrisiko von Zeitreisenden: Franz Friedrichs wundervoller Roman "Die Passagierin" über kollektives Gedächtnis in den verschiedensten Epochen
Am Tag, an dem Heather zurückkehrt, schüttet es aus Eimern: "Wasser staute sich auf den Dachflächen, schwappte auf den Bahnsteig, stürzte auf die Gleise, versickerte im Kiesel." Verwitterung liegt in der Dämmerungsluft. Der Sanatoriumskomplex, den Heather von Jugend auf kennt, erscheint ihr merklich heruntergerockt, anders als früher weitestgehend menschenleer. Mit fünfzehn landete sie zuerst in Kolchis, nach Kolchis kehrt sie erwachsen geworden nun wieder, in der Hoffnung auf Heilung, um jene unvermittelt auftretenden Phantomerinnerungen loszuwerden, die sie heimsuchen. Bis vor Kurzem arbeitete Heather bei den sogenannten Missionen, die Zeitreisen zu Forschungszwecken unternehmen, um das historische Epochenwissen zu verfeinern. Für Leib und Seele sind diese Trips zehrend, das Gedächtnis kommt durcheinander, die Trennlinien zwischen Eigen- und Fremderfahrung verschwimmen, ein allseits bekanntes Berufsrisiko. Bereits seit der ersten Zeitreise, ihrer ungefragten Evakuierung aus dem Jahr 1998, beschleicht Heather ein "Gefühl der Beschädigung". Und nicht nur sie empfindet so, auch Claudio, dem KIND, Miss Bishop und einer Handvoll weiterer Bewohner von Gebäude Nummer 9 geht es ähnlich. Ein jeder aus der Hausgemeinschaft hadert mit seiner Rettung; eine jede fragt sich, warum ausgerechnet sie ausgewählt wurde, evakuiert - oder soll man besser sagen: entführt? - zu werden.
Insgesamt 340.759 Menschen wurden "in der zwei Jahrzehnte währenden Phase der Großen Evakuierung nach Kolchis gebracht". Das entspricht der Einwohnerzahl von Bielefeld, klingt in Anbetracht von mehreren Milliarden gelebten Leben jedoch nach einem durchaus strengen Selektionsverfahren. Der zuständigen Auswahlkommission zufolge hat das seine Gründe. Denn die Zeitreisen in die Vergangenheit folgen unumstößlichen Gesetzen, philosophischen wie physikalischen. Gerettet werden darf ausschließlich, wessen plötzliches Fehlen in seiner Zeit den Lauf der Geschichte nicht weiter beeinflusst. Diese darf, nein, sie kann rückwirkend nicht verändert werden. Anstatt auf große Feldherren und Staatsfrauen trifft man in mittelferner Zukunft vermehrt unscheinbare Biographien an; darunter eine hohe Anzahl Todgeweihter, deren Existenz ohnehin ein baldiges Ende gefunden hätte. Besser anpassen können sich zudem jene Menschen aus weniger weit zurückliegenden Jahrhunderten, schon die Spätmittelalterlichen gelten als schwer integrierbar.
Womit "Die Passagierin", der zweite, hervorragende Roman des Schriftstellers Franz Friedrich, leichtfüßig die nächste Spekulation eröffnet, diesmal auf dem Terrain der Identitätspolitik. Denn in einer Zukunft, in der Menschen nicht bloß aus allen Ecken der Erde, sondern auch den verschiedenen Weltzeitaltern zusammentreffen, lautet die vornehmliche Frage des Anstoßes nicht weiter: woher, sondern vielmehr, von wann kommst du ursprünglich? Schließlich kann kein Mensch aus seiner historischen Haut. In den täglichen Therapiesitzungen wird deutlich, wie mühsam der Vermittlungsprozess sein kann, etwa wenn der ehemalige Schauspieler Edgar von der Ausweglosigkeit einer dem Holocaust entkommenen displaced person berichtet. Und doch gelingt ihm der Transfer, weil die Zuhörer ihm grundsätzlich mit Empathie und Verständniswillen begegnen. Das Kolchis der Zukunft ist ein freundlicher Ort, allen kleineren allzu menschlichen Reibereien zum Trotz. Entscheidungen werden hier konsensual getroffen, die Aufgaben offen und ehrlich verteilt, es wird gemeinsam diniert oder baden gegangen. Schwimmkurse "mit höchster Epochen-Achtsamkeit" gehören selbstverständlich zum Kurangebot.
Dies Kolchis an der östlichen Schwarzmeerküste ist geprägt von vorsichtigem Fortschrittsoptimismus, aber auch von seiner Historie. Weniger als mythologisch bekannter Landstrich der antiken Argonautensage als durch seine sowjetische Besatzungszeit, die Architektur mit ihren sprechenden Namen und einer zu jedem Anlass gemeinsam zu trällernden Hymne. In diesem Setting, wo Zeitreise auf Zeitgeschichte trifft, ein Sanatorium zum Austragungsort zu bestimmen ist schlichtweg genial. Denn wenn es einen Ort gibt, der emblematisch für eine vom restlichen Weltlauf entkoppelte Eigendynamik steht, dann ist es sicher die Institution der Heilanstalt.
Entsprechend entwickelt Friedrich seine Handlung bedächtig, in einer ruhigen, melodiösen und kristallklaren Prosa. Dieser präzisen Sprache gelingt es gleichsam, ein menschliches Schicksal zu schildern, wie eine knifflige Denksportaufgabe zu stellen. Wie eng beides manchmal beieinanderliegt, zeigt die Figur des frühneuzeitlichen Matthias. Als Heather ihm das erste Mal begegnet, wähnt sie ihn seiner Sanftmut wegen als ehemaligen Mönch. Während der deutschen Bauernkriege verdingte sich dieser Matthias allerdings als Söldner auf Seiten der Fürstenheere, die den Aufstand Thomas Müntzers niederschlugen. Dennoch wurde er evakuiert, was gemäß der Zeitreisegesetze nur bedeuten kann: Er, Matthias, ein Mann seiner Zeit, hätte damals nicht anders handeln können. Je mehr Matthias im Abstand der Jahrhunderte aber seine Evakuierung zumindest als Reflexionsprivileg wahrnimmt, desto weniger ist er bereit zu akzeptieren, dass nicht jeder Mensch diese Chance erhält. Alle sollten sie evakuiert werden, jeder Mensch einer jeden Zeit! Die Evakuierungsprogramme aber wurden eingestellt, man könne wohl nicht allen helfen. Hinnehmen will Matthias dies nicht. Für seine anarchistische Umsturzphantasie sucht er eine Verbündete und findet sie in Heather, die ihrerseits mit der eigenen DDR-Sozialisation ringt.
Sämtliche Tiefenebenen dieses zutiefst humanistischen, auch handwerklich schönen Buchs zu vermessen, mit seinem subtilen Humor und dem hoffnungsvollen Universalismus, dafür braucht es Zeit. Die sei dem Roman von Herzen gegönnt. Bereits mit seinem Debüt "Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr" stand Franz Friedrich auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Nun wieder. "Die Passagierin" verdient jedwede Aufmerksamkeit auch über den tagesaktuellen Rummel hinaus. MAXIMILIAN MENGERINGHAUS
Franz Friedrich:
"Die Passagierin". Roman.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024. 512 S., geb.
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