Ein entlegenes Tal in Venetien, eine Flucht in die wilden Siebziger, eine Liebe jenseits jeder Vernunft
Das Tal, in dem Costanza aufwächst, scheint in der Zeit erstarrt, genau wie die Menschen mit ihren Regeln und Riten. Während der Krieg ihre Mutter Augusta noch nach Mailand verschlug, bevor sie in der Enge des Tals Halt fand, träumt die Tochter vom unbändigen, wahren Leben. Sie treibt sich herum, reißt aus und kehrt heim, bis sie Claudio kennenlernt - gemeinsam bricht das Paar auf und geht voller Hoffnung nach Rom. Doch Überschwang und Hedonismus, die Costanza zunächst anzogen, bringen bald ganz eigene Abgründe mit sich.
Ein sprachgewaltiger Roman über Aufbruch und Heimkehr, Liebe und Autonomie von einer Autorin, die zu den wichtigsten Stimmen ihrer Generation zählt
»Ginevra Lamberti bedient sich einer intensiven und facettenreichen Sprache, maßvoll und doch so schillernd wie ein Chamäleon. Sie ist in der italienischen Gegenwartsliteratur eine feste Größe, und das gilt auch für ihren Roman. « La Stampa
»Ein virtuos vielschichtiger Roman, geschrieben in einer immer anderen und immer kontrollierten Sprache, die sich nicht scheut, den Lesenden Engagement und Scharfsinn abzuverlangen. Sie werden belohnt mit allen Freuden des Epos, das sich über mehr als ein halbes Jahrhundert und vier Generationen erstreckt. « Domani
»Ein Kaleidoskop von Geschichten und Figuren, das von Spontaneität und einer seltenen poetischen Reife getragen wird. Kurzum, dies ist echte Literatur. Ginevra Lamberti inszeniert Erwartungen, Enttäuschungen und Tragödien: Schicksale und Lebensereignisse, die sich ausgehend von einem Tal in Norditalien über sechzig Jahre erstrecken. « Corriere della Sera
Besprechung vom 23.10.2024
Der Generationenbruch
Eine italienische Entdeckung: Ginevra Lambertis faszinierender Frauenfamilienroman "Der Aufruhr unserer Herzen"
Man sollte dieses Buch rückwärts lesen. Vom Schluss her fügen sich alle Erzählsplitter zu einer kohärenten Familiengeschichte. Ginevra Lamberti erzählt das Schicksal dreier Generationen aus der Perspektive der Frauen: der nonna Augusta, der Mutter Constanza und der Tochter Gaia. Mittelpunkt ihres Lebens ist das gelbe Haus in einem engen, düsteren, verlassenen Tal inmitten der Wälder in den nordöstlichen Bergen Venetiens. Doch die Konturen dieser zerstückelten Geschichte werden dem Leser erst allmählich klar.
Die 1985 in San Patrignano geborene und in Vittorio Veneto und Rom lebende italienische Schriftstellerin verfolgt mit ihrem Roman einen ambitionierten Erzählplan. Sie hüpft hin und her zwischen den Zeiten und den Ereignissen, wie um die durch Sehnsüchte, Illusionen und durch die harte Lebenswirklichkeit gebrochenen Biographien auch in der Erzählstruktur abzubilden. Das Buch ist nicht in Kapitel unterteilt, sondern in 37 Erzählsequenzen, jede versehen mit einem Schlagwort und einer Jahreszahl. Angeordnet sind sie antichronologisch, was dem Leser einiges abfordert, um sich in dem rasanten, fast getriebenen Erzählschwall zurechtzufinden. Es gibt keine Logik im Ablauf der Geschichten - ein Spiegel des normalen Wahnsinns des Lebens im chaotischen Erzählen. Als Handreichung fügt die Autorin am Schluss ein knappes Schema der wichtigen Akteure und ihrer familiären Beziehungen an. Sie nennt sie ausdrücklich nur beim Vornamen; denn "Nachnamen würden bedeuten, dass du zu jemandem gehörst". Das letzte Kapitel ist mit "Ende 2013" überschrieben und fasst den Untergang der Familie zusammen: Fast alle sind unter dem Boden.
"Der Aufruhr unserer Herzen" (auf Italienisch 2022 unter dem Titel "Tutti dormono nella valle" erschienen) ist der dritte Roman der Autorin, die bereits als neue Stimme der italienischen Literatur gehandelt wird; für ihren zweiten wurde sie 2020 mit dem Premio Mondello ausgezeichnet. "Der Aufruhr unserer Herzen" fokussiert auf typische Frauenschicksale und erzählt im gleichen Zug ein Stück italienischer Sozial- und Kulturgeschichte und der schwierigen weiblichen Emanzipation in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft. Es geht um das elende Leben der drei Frauen, der Großmutter in den Fünfzigerjahren, ihrer Achtundsechziger-Tochter und der Enkelin, die 1985 geboren wird. Constanza befindet sich zu diesem Zeitpunkt mit ihrem aus Rom stammenden Mann Claudio in einem Rehabilitationszentrum für Drogensüchtige. Keine dieser Frauen kann sich noch mit dem Lebensentwurf der vorherigen Generation identifizieren.
Das erste Kapitel nimmt die rigiden Sitten, die im Hause der Nonna herrschen, voraus. In der Nacht kehrt Constanza heimlich ins Haus in den Bergen zurück. Es ist kalt, es ist dunkel, sie hat nichts gegessen, aber um den alten Eltern aus dem Weg zu gehen, würde sie auch auf das Essen verzichten. Das Haus ist doppelt verriegelt, um Holz durch überflüssiges Heizen zu sparen. Augusta, im letzten Kriegsjahr geboren, ist hart geworden. Als Zehnjährige musste sie bereits acht Stunden in einer Raupenaufzucht mit den Händen im kochenden Wasser arbeiten. 1956, zwei Jahre später, schickt ihre Mutter sie als Haushaltshilfe in eine feudalistische Dynastie nach Mailand. Ihre Tochter Constanza hält nichts vom traditionellen Familienmodell der Mutter im engen Tal. Sie besucht im Gegensatz zu dieser, die Lehrerin werden wollte, die Mittelschule, haut aber immer wieder ab. Ihr Fixpunkt ist nicht die Familie, sondern stets wechselnde Freunde. Per Anhalter bewegt sie sich quer durch Italien. Mit Hunderten anderen schläft sie in Florenz auf dem Platz am Palazzo Vecchio in schmutzigen Schlafsäcken voller Läuse, sammelt Geld, setzt sich einen Schuss. In den Augen der Mutter führt sie ein zügelloses Leben, unstet, selbstbestimmt - nach den libertären Regeln der Achtundsechziger. Schon bald gleitet sie mit ihrem drogensüchtigen Freund Claudio, der sich Geld für Heroin auch als falscher Zahnarzt beschafft, in eine Halbwelt von Drogenhandel, Abhängigkeit und Lebenslügen. Mutterschaft bedeutet ihr wenig.
Als sie mit Gaia schwanger wird, sind Constanza und Claudio in die Hände eines dubiosen "Großen Führers" geraten, dem Chef des Zentrums für Drogenentzug. Sie flüchtet mit Gaia zurück ins enge Tal. Nur ihre Mutter Augusta weiß, wie man überhaupt mit Kindern umgeht. Gaia vertritt in Ginevra Lambertis Roman die jüngste Generation der Italienerinnen: Sie besucht das Gymnasium. Ihr Leben bewegt sich in strukturierten Bahnen. Aber auch sie lebt jetzt im engen Tal, in dem Magie und Aberglauben herrschen. Das Wort "lux", das sie in den vielen Gebeten der Nonna hört, wird ihr Sehnsuchtswort. Mit Walkman und dem ersten Mobiltelefon vertreibt sie sich die Zeit. Als Augusta stirbt, sucht sich Gaia ihren eigenen Weg. Sie macht sich auf nach dem Meer. Das gelbe Haus lässt sie mit all den alten Möbeln, Bildern und Lebensgerümpel zurück.
Ginevra Lambertis Frauenroman bricht mit dem Klischee des unbeschädigten Sehnsuchtsorts "Italien" und mit der Vorstellung der intakten Großfamilien. Dass die Mütter allerdings bis heute eine dominante Rolle spielen und die Familie zusammenhalten, spiegelt sich auch in ihrem Roman. Männer besetzen in dieser mäandrierenden Geschichte fast durchweg schwache Nebenrollen. Sie sind im besten Fall Mitspieler, im schlechtesten Fall Versager, die aber durch eine halluzinierende Leichtigkeit die Frauen in ihren Bann ziehen. Der Nachteil des wilden Erzählens Lambertis liegt auf der Hand: Weniger wäre oft mehr, die mangelnde Kontrolle der unzähligen, über den Leser flutartig hereinbrechenden Reminiszenzen schwächt auf die Dauer deren Wirkung ab. Vorteil dieses von Brüchen bestimmten Romans ist aber, dass er ein authentisches Zeugnis des tiefen Wandels ist, der auch in Italien die Generationen spaltet und ein neues weibliches Selbstverständnis ankündigt. PIA REINACHER
Ginevra Lamberti:
"Der Aufruhr unserer
Herzen". Roman.
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Piper
Verlag, München 2024.
263 S., geb.
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