Besprechung vom 07.07.2019
Genie und Verbrechen - kann man das trennen?
"Das Volk der Bäume", der erste Roman der großartigen Autorin Hanya Yanagihara, erscheint auf Deutsch
Neulich im Café: Alles war gerade ganz friedlich, da kam plötzlich "Billie Jean". Und dann, als der Schock sich gelegt hatte, kurz danach auch noch "Black or White". Was tun? Sofort aufstehen? Sitzen bleiben und das nicht zu verhindernde innere Mitsingen nach außen hin durch einen besonders kritisch-alarmierten Gesichtsausdruck kompensieren? Auch nach all den Feuilletondebatten über die wahrscheinlich nötige, aber höchstwahrscheinlich unmögliche Trennung zwischen zu schützender Kunst und zu verurteilendem Künstler weiß man immer noch nicht mehr, als dass das Ganze ein Dilemma ist. Unlösbar.
Ach, hätte man doch "Das Volk der Bäume" von Hanya Yanagihara im Café dabeigehabt! Dieser Roman nämlich, das Debüt der Schriftstellerin und Journalistin, die 2016 mit ihrem zweiten Buch "Ein wenig Leben" ("A Little Life") weltbekannt wurde, gibt eine sehr überzeugende ästhetische Antwort darauf, wie man Werk und Verbrechen trennen beziehungsweise: mit beiden zusammen umgehen kann.
Achtzehn Jahre hat Yanagihara an ihrem Debüt geschrieben. "Die Erinnerung daran ist vor allem die Erinnerung an eine furchtbare Zeit in meinem Leben: Es ist Sommer, alle sind irgendwo draußen am Strand, nur ich sitze am Schreibtisch", sagte sie neulich bei einer Lesung in Berlin ziemlich fröhlich. Es ist ja auch ein großes Glück: Nicht nur, dass sie achtzehn Jahre lang hartnäckig geblieben ist, sondern auch, dass das Buch sechs Jahre nach Publikation des amerikanischen Originals endlich ins Deutsche übersetzt worden ist.
"Das Volk der Bäume" ist ein grundlegend anderes Buch als "Ein wenig Leben": keines, das man fast ohne Pause verschlingt und beweint, keines, das rückhaltlose Identifikation mit den Hauptfiguren fordert. Hier geht es nicht um vier enge Freunde in New York, sondern um eine Gruppe einander nicht besonders sympathischer Wissenschaftler auf einer fiktiven Insel. Anstelle des Ortes, der einem zutiefst vertraut ist, und sei es nur aus anderen Büchern, Filmen, Songs, also ein imaginärer Ort, für dessen allererste innere Vorstellung man im Kopf erst Platz schaffen muss. Anstelle von Identifikationsfiguren eine Hauptfigur, die einem noch vor dem ersten Kapitel durch Zeitungsberichte als Verbrecher offenbart wird. Auch der sexuelle Missbrauch, der in beiden Texten zentral ist, wird von der entgegengesetzten Seite beleuchtet: in "Ein wenig Leben" durch die Psyche eines Überlebenden, in "Das Volk der Bäume" durch die Memoiren eines Täters. Wo "Ein wenig Leben" hineinzieht, hält "Das Volk der Bäume" auf Distanz. Und gerade die Konstruktion dieser Distanz ist es, die an dem Buch so sehr fasziniert, die es zu einem so beeindruckenden, beinahe experimentellen Stück Literatur macht.
Es geht um den Arzt Dr. Norton Perina, der in den 1950er Jahren als junger Medizinabsolvent zusammen mit einem berühmten Ethnologen eine Forschungsreise zu einer Inselgruppe in der Südsee unternimmt. Die wichtigste der fiktiven Inseln ist Ivu'ivu, Perina ist dort für die Untersuchung der indigenen Bewohner des Dschungels zuständig. Ziel der Forschungen ist es vor allem, hinter das Geheimnis der hohen Lebenserwartung der Inselbewohner zu kommen: Einige sind schon über zweihundert Jahre alt. Dabei entdeckt er unter anderem eine Schildkrötenart namens Opa'ivu'eke, verschiedene, auch problematische Rituale - und seine große Liebe zu den Kindern der Inselfamilien, von denen er über die Jahre insgesamt mehr als vierzig adoptieren und mit sich zurück in die Vereinigten Staaten nehmen wird. In den 1970er Jahren wird ihm für seine Entdeckungen der Nobelpreis verliehen, seine Veröffentlichungen machen die Insel aber auch bekannt und setzen sie massiven Eingriffen und Veränderungen aus. Perina ist darüber entsetzt. Für seine eigenen Taten, für die er 1997 angeklagt und verurteilt wurde, die mehrfache Vergewaltigung von einem seiner Adoptivsöhne, gilt das nicht.
Mehr braucht man zum Inhalt des Romans nicht zu wissen - höchstens noch, dass Dr. Perina ein reales Vorbild hat: der Mediziner Dr. Daniel Gajdusek, ebenfalls Nobelpreisträger, ebenfalls wegen sexuellen Missbrauchs an einem Adoptivsohn verurteilt, arbeitete mit Yanagiharas Onkel am gleichen Forschungszentrum, sein Name war ihr als Kind sehr vertraut. Dass sie eines Tages über ihn schreiben wollte, wusste sie schon früh. Für Recherche und Schreiben hat sie allerdings noch einmal achtzehn Jahre gebraucht. Als "Das Volk der Bäume" dann 2013 erschien, bekam es ein paar positive Rezensionen, wurde insgesamt aber wenig beachtet. Den zweiten Roman schrieb sie daraufhin in nur achtzehn Monaten, der Erfolg machte sie 2016 weltweit bekannt.
Das Entscheidende aber ist die Textform. "Das Volk der Bäume" ist als Herausgeberfiktion konstruiert. Das heißt, die Veröffentlichungsumstände der Erzählung werden miterzählt, als ebenfalls fiktionale Geschichte: Ronald Kubodera, Perinas ihm treu ergebener Assistent, spricht in einem Vorwort und in umfangreichen Fußnoten, und er schickt dem Text eine Karte der Inseln und zwei Zeitungsartikel zur Verhaftung Perinas voraus. Daran muss man erst einmal vorbei, ehe man zu den Memoiren kommt. Ganz am Ende folgen noch ein Epilog, ein Nachtrag, ein Anhang mit zeitlichem Überblick und einem Glossar ausgewählter u'ivuanischer Begriffe.
So entsteht eine Schutzzone um die Stimme des Verbrechers herum: Sie ordnen das, was er erzählen wird, in einen Kontext ein, sorgen zum Beispiel dafür, dass der Roman mit der Benennung der Taten beginnt und endet. Dazwischen folgt man Perinas eigener Erzählung seines Lebens, von der Kindheit über das Studium und die minutiöse Entdeckung und Erforschung der Insel bis zur Adoption und Erziehung der Kinder. Er scheint genau und beinahe naiv offen zu beschreiben. Entlarvend wirkt erst recht die bedingungslose Loyalität seines Assistenten. "Norton ist ein Genie, und das ist alles, was in meinen Augen zählt und meiner Ansicht nach für die Geschichte zählen sollte", schreibt er gleich zu Anfang: "Ich möchte nicht weniger als Nortons Ruf wiederherstellen. Weniger als das für einen Mann zu tun, welcher der Welt der Wissenschaft und der Medizin so viel gegeben hat, wäre, in einem Wort, unverzeihlich." Die übrigens großartige Übersetzung von Stephan Kleiner lässt den doppelbödigen Humor der stellenweise satirischen Übertreibungen und der Wissenschaftssprache der Fußnoten perfekt durchscheinen.
Zwischen diesen verschiedenen Textbausteinen findet das Spiel zwischen Distanz und Einfühlung statt: Man kann ja nicht anders, als sich in jemanden, dessen Lebenserzählung man liest, hineinzuversetzen - auch, wenn man von Anfang an weiß, dass man der Erzählung eines Verbrechers folgt. Ständig ist man beim Lesen damit beschäftigt, diese beiden Gefühlszustände auszutarieren: ohne Anteilnahme kann man einer Erzählung nicht folgen, ohne Distanz aber kann man eine Ich-Erzählung, die in die Vergewaltigung eines Kindes münden wird, nicht ertragen.
Und geht es bei der Hilflosigkeit gegenüber Michael Jacksons eingängiger Musik nicht genau darum: um die Angst, nichts tun zu können gegen eine automatische Identifikation, die Angst davor, den nötigen Abstand nicht halten zu können, sondern beim Zuhören automatisch zu bejahen und zu bestärken, weiter zu erhöhen und zu bewundern? Gibt es eine Art der Kunstrezeption, die nicht überhöhend, nicht affirmativ ist? Hanya Yanagihara zeigt mit "Das Volk der Bäume", dass es geht.
Die Haltung der Erzählerin ist dennoch eindeutig. Ein Zitat aus Shakespeares "Der Sturm" ist dem Roman als Motto vorangestellt: "Prospero: Ein geborner Teufel ist's, / An dem Erziehung nichts verbessern kann." Erziehung kann nichts verbessern. Erzählung schon. Vor allem wenn sie so vollkommen undidaktisch und erfinderisch ist wie in "Das Volk der Bäume".
"Ich interessiere mich dafür, was es bedeutet, menschlich zu sein" ("what it means to be human", formulierte sie neulich in einem Gespräch mit dem Fotografen Alec Soth im "T Magazine" der "New York Times", dessen Herausgeberin sie ist, ihren eigenen Schreibantrieb. Menschlich ist es auch, sich nach der vollkommenen Identifikation und Bejahung in der Kunst zu sehnen. "Ich kann verstehen, wenn jemand die Musik von Michael Jackson nicht mehr hören mag", sagte sie in Berlin auch: "Ich aber höre sie weiter." Kein Wunder: Sie weiß schließlich, wie das gelingt, die großartige Hanya Yanagihara.
JULIA DETTKE.
Hanya Yanagihara: "Das Volk der Bäume". Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin, 480 Seiten
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