Drei Jahrhunderte, ein mächtiges, friedliebendes Geschöpf und die Lebenswege der Menschen, die von ihm angezogen sind. Iida Turpeinen erzählt in »Das Wesen des Lebens« ausgehend von der ausgestorbenen Stellerschen Seekuh von obsessiven Sammlern und rastlosen Wissenschaftlern, von begeisterten Naturschützern und den Frauen, die an Naturerforschungen immer schon beteiligt waren. Sie zeigt, wie wir Menschen vom unbedingten Begehren nach Erkenntnis angetrieben werden - und wie wir dafür die unwiderrufliche Zerstörung der Natur in Kauf nehmen. Ob auf Großer Nordischer Expedition in der Beringsee im 18. Jahrhundert, 100 Jahre später in der russisch-amerikanischen Kompanie in Nowo-Archangelsk in Alaska oder Mitte des 20. Jahrhunderts auf den Vogelinseln vor Helsinki: Turpeinen lässt uns mit ihrer berührenden Erzählkunst unsere Welt und das Wunder des Lebens mit neuen Augen sehen und verstehen, wie alles mit allem verbunden ist.
»Dieses Buch werden Sie bewegt und mit angehaltenem Atem lesen. «
Helsingin Sanomat
Aus dem Finnischen übersetzt von Maximilian Murmann
Besprechung vom 21.09.2024
Das Interesse der Küche geht vor
Provenienzforschung einmal anders: In ihrem historischen Roman "Das Wesen des Lebens" folgt Iida Turpeinen der "Stellerschen Seekuh" bis zum Aussterben.
Es ist eine Kunstform für sich, Infotafeln für die Objekte eines Museums zu schreiben, und in vielen Fällen reicht der dargebotene Inhalt vollkommen aus. Bei der "Stellerschen Seekuh", einem ausgestorbenen Geschöpf, von dem weltweit nur 27 Skelette in unterschiedlicher Güte existieren, fängt das Erklärungsbedürfnis hingegen schon damit an, dass der Betrachter mit dem Namen Steller selten etwas anfangen kann. Und was eine Seekuh ist - die erhaltenen Arten, viel schmächtiger als die "Stellersche" Seekuh, harren ihrer Ausrottung in warmen Gefilden unter den Namen Dugong und Manati -, muss man auch erst mal nachschlagen.
Einzig die Leser von Jules Verne sind im Vorteil: "Was mag dies für ein Tier sein?", ruft im Roman "20.000 Meilen unter dem Meer" der Harpunier Ned Land: "Es hat nicht den zweispaltigen Schwanz der Walfische oder Pottfische, und seine Flossen sehen aus wie verstümmelte Gliedmaßen." Immerhin führt das zur Frage: "Wenn vielleicht dieses das letzte seiner Rasse wäre, würde es dann nicht besser sein, es zu schonen, im Interesse der Wissenschaft?" Ned Land antwortet: "Vielleicht, aber im Interesse der Küche ist's besser, es zu erlegen."
Die Finnin Iida Turpeinen hat nun einen ganzen Roman über das Leben und Aussterben der Stellerschen Seekuh geschrieben. Er beginnt mit einem Blick auf ein riesiges, von Kindern als Dino interpretiertes Skelett im Naturhistorischen Museum Helsinki. Das ist ein bisschen schlicht, aber ein passables Sprungbrett. Die Erzählerin nimmt kurz Anlauf ("Stell dir das Beringmeer vor") und landet im achtzehnten Jahrhundert auf den Schiffen der "Großen Nordischen Expedition".
In bildstarken, vom Präsens beschleunigten Sätzen und kurzen Abschnitten beginnt sie hier vom dänischen Marineoffizier Vitus Bering zu erzählen, der sich im Auftrag der russischen Zarin Anna Iwanowna gerade bis Kamtschatka vorwagt, vor allem aber von einem deutschstämmigen Arzt, der Bering bis in den unbekannten fernen Osten Russlands die Treue hält und die dortige Pflanzen- wie Tierwelt kartieren soll: Georg Wilhelm Steller.
Zusammen gelangen die beiden 1741 bis nach Alaska, stranden schließlich an jener Insel vor Kamtschatka, die heute nach Bering benannt ist. Und schon unterwegs taucht ein wundersames Tier auf, das Steller trotz seines umfangreichen Wissens nicht einordnen kann. Es erinnert ihn an das Wesen, das Christoph Kolumbus einst in der Karibik entdeckte und für eine Meerjungfrau hielt - nur wesentlich größer und zu Hause im kühlen Norden. Steller erkennt seine Chance auf ewig währenden Entdecker-Ruhm.
Was danach passiert, die Wiederbegegnung mit der Seekuh und ihre Erforschung, schildert Turpeinen in all der Dramatik, die sich parallel durch den Überlebenskampf der Expeditionsteilnehmer abgespielt hat. Aber nicht geradlinig: Um die Erzählung zu lockern, schiebt sie eine Zeitraffer-Passage ein, in der wir die Artenentwicklung von der Urzelle über die ersten Lebewesen bis zum Erscheinen der ersten elefantengroßen Seekühe im Meer vor zwei Millionen Jahren erleben. "Und plötzlich lauert eine neue, Furcht einflößende Bestie an den Stränden." Das ist der Mensch. Er stutzt die Bestände der Algen futternden, wehrlosen, zum Tauchen kaum fähigen Acht-Meter-Riesen bis auf jene letzte Herde hinunter, die Steller 1741 im Meer vor Kamtschatka entdeckt.
Diese Seiten sind großartig, weil Archaeen und Bakterien und Algen und Zellen ja eher selten Protagonisten einer Erzählung sind, von Seekühen gar nicht zu reden. Überhaupt gelingen der Autorin, hier übersetzt von Maximilian Murmann, immer wieder originelle Passagen. Doch dann kommt der Moment, in dem sie den Roman über die Entdeckung der letzten Seekuh-Herde im Norden durch Steller und die unausweichliche Ausrottung durch Jäger im Anschluss daran hinausführen muss.
Sie rettet sich durch einen weiteren Sprung - diesmal zum finnischen, 1859 in russischen Diensten stehenden Gouverneur von Alaska, Johan Hampus Furuhjelm. Obwohl auch dieses Kapitel über ihn und seine charmante Gattin Anna seine Berechtigung hat, weil es unter anderem von der wissenschaftlichen Entdeckung des Aussterbens und dem Pelzjagdfieber in Alaska erzählt, ist der Plauderton auf diesen Seiten zusehends ermüdend. Nebensächliches nimmt überhand, bis zwei Ureinwohner der Aleuten endlich ein Skelett der Seekuh entdecken.
Erst in den letzten Kapiteln findet Turpeinen zur ausgewogenen Form des Anfangs zurück. Die Idee einer Geschichte, die von den Knochen der ausgestorbenen Stellerschen Seekuh zusammengehalten wird, führt sie jetzt zur finnischen Tiermalerin Hilda Olsson und dem Restaurator John Grönvall. Erstgenannte arbeitet im 19. Jahrhundert für den Zoologen Alexander von Nordmann. Er hat sich seit Langem nach einem Skelett der mittlerweile legendären Seekuh von Steller gesehnt, und als die "Bestie des Meeres" bei ihm in Helsinki eintrifft, muss Olsson sich das lebende Geschöpf anhand der Knochen und Beschreibungen vorstellen: "Die Wissenschaftler gelangen vielleicht nicht zu seinem Exponat, deshalb muss es in Papierform zu ihnen reisen."
Grönvall wiederum ist in den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts im Tierkundemuseum beschäftigt. Er ist eigentlich auf die Restauration von Vogeleiern spezialisiert, weshalb wir über ihn als Beispiele für andere ausgerottete Arten erst mal vom Ende des Riesenalks und der Wandertaube erfahren. Eines Tages jedoch erhält natürlich auch sein Wirken Bedeutung für die Erinnerung an die Seekuh: Er muss die Knochen nach dem Wissenstand seiner Zeit arrangieren. Und das macht er in bewundernswerter Kunstfertigkeit. Bevor sich das allgemeine Interesse an der Seekuh verliert.
Das ist das Tröstliche an diesem freundlichen Roman über das Artensterben, ein Thema, das in Buchform vor allem durch die Bestseller Maja Lundes populär wurde: Er erinnert daran, dass Verlorenes zumindest über die Literatur für die Dauer einer Nachmittags vor dem Insektenhotel im Garten wieder aufleben kann. MATTHIAS HANNEMANN
Iida Turpeinen: "Das Wesen des Lebens". Roman.
Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann. Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024. 320 S., geb.
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