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Besprechung vom 17.09.2024
Verteidiger der Demokratie
Ein leidenschaftliches Plädoyer gegen "ostdeutschtümelnde" Nostalgiker und die nicht enden wollenden Opfernarrative in der ehemaligen DDR.
Ilko-Sascha Kowalczuk ist der Punk unter den deutschen Historikern, akademischer Rebell und intellektueller Nonkonformist. Doch hängt er keinen destruktiven No-Future-Parolen an. Vielmehr zeigt er sich mit seiner zwischen Analyse und Anklage changierenden "anderen Geschichte Ostdeutschlands" als Verteidiger von Demokratie und Freiheit. Diesen Zweiklang schreit Kowalczuk heraus. Im Wissen um die Vergeblichkeit seines Tuns hämmert er seine Warnung vor Feinden der Demokratie in hartem Rhythmus gegen die Wand von Opportunisten und Gleichgültigen.
Demokratie und Freiheit sind seine Leidenschaft. Anders als andere Ostdeutsche hat Kowalczuk 1989/90 keinen "Freiheitsschock" erlitten, sondern die gewonnene Handlungsfreiheit genutzt - auch um den Preis des persönlichen Scheiterns. Ein freies Ich zieht er einem starken Staat vor. Bis zu seinem 22. Lebensjahr war ihm existenzielle Freiheit verwehrt - eine Erfahrung, die Kowalczuk zum libertären Radikalen werden ließ: Im Alter von 15 Jahren hatte er seine Entscheidung für eine Offizierslaufbahn bei der Nationalen Volksarmee der DDR revidiert. Jeder hätte merken können, schreibt er, dass es bei ihm "mit Gehorchen und Befehlen . . . nicht so richtig klappen würde" - was im Übrigen auch dieser zum Teil wild durch die Themen tanzende Text bestätigt. Nachdem der Teenager damals seine Zusage für die Truppe widerrufen hatte, trafen ihn elterliche Enttäuschung, gesellschaftliche Ächtung und die staatsoffizielle Vorhersage, er werde in den Verwahranstalten des sozialistischen Vaterlandes enden. Seinem Vater habe er ins Gesicht gesagt, Revolutionen scheiterten meist daran, dass die Söhne nicht bereit seien, ihre Väter zu erschießen - er aber wolle eine siegreiche Revolution. "Zu gern würde ich diesen Satz zurücknehmen. Allein: Er war in der Welt und bestimmte fortan mein Denken." Eine andere Prägung - weniger lutherisch - verdankt Kowalczuk seinen fast gleichaltrigen Cousins. Sie waren unterschiedlich schwer behindert, und selbst als Kind blieb ihm nicht verborgen, wie mitleidlos der SED-Staat und viele seiner Bürger mit Menschen umgingen, die sozialistische Normen nie erfüllen, geschweige denn übererfüllen würden. Kowalczuk erbost, dass die Erinnerung an offene Schmähungen "voller Nazisprech" und das Wegsperren oder die erbärmliche Versorgung von Behinderten und Gebrechlichen in den staatlichen Einrichtungen des Realsozialismus verblasst. Dass "ostdeutschtümelnde" Nostalgiker unwidersprochen ihr Bild vom solidarischen Fürsorgestaat in rosigen Farben zeichnen, ist ignorant - zumal heute der Minderheitenschutz doch eigentlich wichtig genommen wird.
Gegen alle Schattierungen der weitverbreiteten Diktaturverklärung begehrt der Autor aus tiefstem Herzen auf. Ilko-Sascha Kowalczuk wehrt sich gegen die politische Instrumentalisierung dieser Tendenz von rechts und links außen, er will Extremisten und Demokratieverächtern die Diskurshoheit nicht überlassen. Furcht- und rücksichtslos legt er in seinem Bericht zur Seelenlage der Deutschen unter besonderer Berücksichtigung der Psychopathologie im Osten Geschichtsvergessenheit offen. Dabei werden die gegenwärtigen Zustände in Deutschland nicht idealisiert, so spart Kowalczuk nicht mit harten Urteilen zum Beispiel über die aus seiner Sicht gescheiterte Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur, weil sie "über die Köpfe der Menschen hinweg erfolgt" sei und westliche Geschichtspolitiker und "jede Differenzierung ablehnende Fanatiker aus dem Osten" am Werk gewesen seien. Ganz so einfach ist es nicht - und Kowalczuk weiß das auch. Zu Recht beklagt er, dass die Freiheitserfahrung der "89er", also der Bürgerrechtler der DDR, "einer zwar kleinen, aber für das neue Deutschland extrem wichtigen Gruppe, im politischen und historischen Bewusstsein der (west)deutschen Intellektuellen nie angekommen" sei. Interessanterweise beruft er sich hier nicht auf die eigene grundstürzende Freiheitserfahrung oder auf namhafte DDR-Oppositionelle, sondern auf den deutsch-britischen Vordenker des Liberalismus Ralf Dahrendorf.
Vorhandene Erklärungsmuster für den erstarkenden Extremismus wirft Kowalczuk nicht komplett über den Haufen, sondern spitzt sie eher zu. So thematisiert er die Folgen der Abwanderung von Ost nach West - ein Braindrain, über den sich die ostdeutsche Gesellschaft soziokulturell homogenisiert hat und der sich ungut mit den Nachwirkungen der explizit antiwestlichen und antikapitalistischen Propaganda der SED paart. Vierzig Jahre staatliche Erziehung zum Hass auf den Westen lebten fort und machten nachfolgende Generationen empfänglich für die Parolen rassistischer Rattenfänger und nationalistischer Heilsversprecher.
"Ich habe die Rede von Protestwählern noch nie verstanden. Die AfD ist eine nationalistische, völkische Partei mit einem rassistischen Programm." Kowalczuk schreibt gegen die AfD an, gegen Freiheitsfeinde, Mythen und Medienstars jeder Couleur. Gregor Gysi und die "Nationalbolschewistin" Sahra Wagenknecht nimmt er ebenso aufs Korn wie die Neue Linke und Globalisierungsgegner sowie Putin und dessen Apologeten, die nach seinem Verständnis Putin-Nichtversteher sind. Die Warnungen sind bitter ernst: damit, wie er schreibt, unsere Zeit nicht in die Geschichte eingeht als eine, die Demokratie und Freiheit autoritären, antidemokratischen und inhumanen Staats- und Gesellschaftsformen opferte.
Es ist nicht leicht, Kowalczuk auszuhalten. Seine Argumentation ist auch nicht immer stimmig, etwa wenn er für eine neue gesamtdeutsche Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes plädiert. Die Idee ist so nachvollziehbar wie oft wiederholt. Doch Kowalczuks eigene, harte Diagnose über freiheitsfeindliche Ostdeutsche und deren Unfähigkeit, sich zu trauen, widerlegt die These, dass ausgerechnet eine neue Verfassung flächendeckend Freude an gelebten demokratischen Werten auslösen könnte.
Dennoch: Es hilft, sich Kowalczuks Überzeichnungen zuzuwenden. Niemand muss alle Wendungen dieses essayistischen Rundumschlags teilen. Aber sich wegzudrehen und das Leben in Freiheit preiszugeben, ist auch keine Lösung. Kowalczuk hält wacker dagegen: "Die deutsche Einheit ist nicht nur längst vollzogen. Sie ist auch eine Erfolgsgeschichte geworden. Das ist nur noch nicht durchgedrungen." Es kann deutschen Debatten nur guttun, wenn ein Punk sie aufmischt. Larmoyanz und Hass haben wir genug. JACQUELINE BOYSEN
Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute.
C.H.Beck Verlag, München 2024. 240 S.
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