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Besprechung vom 18.01.2022
Im Sesshaftwerden steckte schon der Wurm
Wachstum ist zu vermeiden: James Suzman empfiehlt Bedürfnisreduktion als Weg in eine bessere Welt
Die Geschichte, die in diesem Buch von dem Cambridger Sozialanthropologen James Suzman erzählt wird, ist alt. Sie handelt von der Selbstrettung der Menschheit durch Mäßigung. Dabei geht es keineswegs um eine simple Rekapitulation der spätestens seit Aristoteles gängigen Vorstellungen eines maßvollen Lebens als Bedingung seines Gelingens. Suzman argumentiert vielmehr historisch und ethnologisch, dass maßvolles Leben nicht nur möglich sei und dabei keineswegs mit großen Einbußen bezahlt werden müsse, sondern auch größere Entfaltungsräume für menschliche Individualität gebe. Das bedingt in gewisser Hinsicht den narrativen Duktus des Buches, das eine Verfallsgeschichte präsentiert, die um den Komplex der menschlichen Energiegewinnung und Energienutzung, kondensiert im menschlichen Arbeitsverhalten, gruppiert ist. Der deutsche Titel, nach dem es in diesem Buch um eine "andere Geschichte der Menschheit" gehe, ist deshalb missverständlich. Der englische Originaltitel ist klarer: "Work - A History of how we spend our time".
Suzmans Befunde sind scheinbar eindeutig. Hätten die älteren und historisch überaus dauerhaften Jäger- und Sammlerkulturen mit recht geringem Aufwand an Arbeit ihren Unterhalt gewährleistet und dabei vergleichsweise egalitäre Sozialstrukturen aufgewiesen, so sei zunächst durch die neolithische Revolution, also den Übergang zur Sesshaftwerdung und zum Ackerbau, und dann durch die Entstehung der modernen Wirtschaft im Zuge der Industriellen Revolution alles anders geworden. Dadurch sei zwar jeweils die wirtschaftliche Produktivität deutlich gestiegen. Doch ebenso haben die Arbeitszeit und die Arbeitsbelastung zugenommen, ohne dass sich Lebenshaltung und Lebensstandard dauerhaft wirklich erhöht hätten. Große Anteile der wachsenden Produktion seien durch die parallel wachsende Bevölkerung geschluckt worden und die möglich gewordene Verstädterung mit einer deutlichen Zunahme der sozialen Ungleichheit verbunden gewesen.
Stets hätten zudem Malthusianische Fallen gedroht, also Krisen in Folge von Ernteausfällen, Krankheiten und Kriegen, die die angewachsene Bevölkerung wiederum drastisch reduzierten. Erst die Industrielle Revolution hätte Produktivitätssteigerungen gebracht, die nun auch für große Teile der Bevölkerung Verbesserungen herbeigeführt hätten. Doch die Hoffnung, diese Verbesserungen würden irgendwann zu einer zufriedenen, weniger arbeitswütigen und gelasseneren Menschheit führen, wie sie John Maynard Keynes vor Augen stand, habe sich nicht erfüllt. Im Gegenteil, die Produktivitätssteigerungen hätten vielmehr einer "Malaise des grenzenlosen Anspruchsdenkens" zum Sieg verholfen, das nun Gefahr laufe, durch energieintensive Arbeits- und Wachstumsprozesse und eine damit verbundene Zunahme der Bevölkerung den Planeten zu ruinieren.
Womit sich für Suzman eine neue gigantische Malthusianische Falle abzeichnet. Der Ausweg aus ihr liegt für ihn in der Selbstmäßigung, in der Senkung unserer Konsumerwartungen, wodurch nicht nur die ökologischen Herausforderungen bewältigt werden könnten, sondern auch erfüllteres Leben winke. Die letzten Jäger und Sammler der Kalahari sind für ihn ein Beispiel, dass es solche gleichgewichtige und auch langfristig stabile Lebensformen gibt.
Suzman ist nicht naiv, er sieht im Nachweis der Möglichkeit alternativer, weniger arbeits- und energieintensiver Lebensformen keine radikale Alternative zur gegenwärtigen Welt, sondern einen Anlass, sich mit Alternativen zu beschäftigen, die sich zudem lebensfreundlicher ausnehmen.
Das alles ist sympathisch geschrieben, nachvollziehbar strukturiert und, wenn auch gelegentlich ein wenig anekdotisch und sprunghaft, plausibel vor allem deshalb, weil es das eigentliche Problem im unkontrollierten Bevölkerungswachstum identifiziert, das in der Tat die Grenzen der Tragfähigkeit des Planeten erreichen könnte. Nur fragt sich der wirtschaftshistorisch informierte Leser, wie die Menschheit in diese "Malaise" geraten konnte, von der doch bestenfalls eine Minderheit profitiert. Eine Verfallsgeschichte setzt ja stets eine Menschheit voraus, die diesen Verfall auch hinnimmt. Den hier üblichen Verweis auf eine Herrschaftsgeschichte spart sich Suzman, für den es wohl eher die ungeplanten Folgen von modernem Ackerbau und moderner Industrie waren, die in die "Malaise" führten, verstärkt durch mit ihnen verbundene Knappheitsvorstellungen der Ökonomie und unangemessenen Erwartungen ("Malaise der Maßlosigkeit"). Mit weniger zufrieden sein, statt Knappheit zu beklagen und ständig neue Bedürfnisse zu äußern, so etwa stellt sich Suzman eine bessere Welt vor.
Das Heil der Welt in einer Abwendung vom ökonomisch getriebenen Wachstumsstreben durch individuelle Bedürfnisreduktion zu suchen, ist aber weder neu noch wirklich nachvollziehbar, zumal derartige Forderungen keinen konkreten Adressaten haben. Ob die Probleme der Gegenwart die Folge individueller Maßlosigkeit sind und durch eine Korrektur dieser Haltung zu kurieren, wäre ohnehin erst zu klären. Und gerade das tut Suzman nicht, der zwar die Mühen der täglichen Arbeit nachvollziehbar beschreibt, aber realistische Alternativen hierzu nicht benennt.
Und das ist kein Zufall, denn das Problem liegt gerade in den paradoxen Folge der Produktivitätssteigerung, die Malthus so eindringlich beschrieben hat: Die Bevölkerung nimmt deshalb so stark zu, weil der pro Kopf zu treibende Existenzaufwand immer geringer wird. Der Überbevölkerungsdruck, der auf der Erde lastet, ist keine Folge der Maßlosigkeit, sondern der im historischen Maßstab geradezu atemberaubenden Verbilligung der Einzelexistenz. Die Probleme der Gegenwart entstehen daher auch weniger aus individueller Maßlosigkeit als aus der Kumulation mehr oder weniger anspruchsloser, dafür aber massenhafter Lebensweisen. Und wäre das mit dem Schrumpfen so einfach, dann müssten die westlichen Gesellschaften über ihre niedrigen Geburtenraten eigentlich froh sein, doch sehen sie durchweg gerade darin eine Bedrohung der Lebensbedingungen der Menschen, die von funktionierenden Sozialsystemen abhängen.
Die Antworten auf die Fragen der Gegenwart werden daher komplizierter ausfallen müssen, als Suzman es glaubt. So sympathisch eine maßvolle und weniger von Arbeit bestimmte Existenz im Einzelnen sein mag, so wenig wird sie allein die Probleme lösen. WERNER PLUMPE
James Suzman:
"Sie nannten es Arbeit". Eine andere Geschichte der Menschheit.
Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. C. H. Beck Verlag, München 2021. 398 S., geb.
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