Was geschieht, wenn das Unfassbare geschehen ist? Zum Auftakt seiner neuen Reihe erzählt Krimipreisträger Jan Costin Wagner eine spannungsgeladene Geschichte auf einmalig einfühlsame und literarisch meisterhafte Weise.
Ein Kind verschwindet. Dabei hat seine Mutter den Jungen nur für wenige Momente aus den Augen gelassen. Die Ermittlungen beginnen und schnell stößt die Polizei auf Verbindungen zu einem weiteren vermissten Jungen.
Die Ermittler Ben Neven und Christian Sandner machen sich auf die Suche nach dem fünfjährigen Jannis. Zeugen erinnern sich, dass ein Mann mit einem Teddybär auf dem Arm das Kind während des Flohmarkts in der Grundschule angesprochen hat. Schnell wird Ben und Christian klar, dass sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten. Und nicht nur das: es scheint einen direkten Zusammenhang mit der nie aufgeklärten Entführung eines weiteren Kindes in Österreich zu geben. Die beiden Polizisten stoßen auf finstere Abgründe.
Jan Costin Wagner verarbeitet gleich mehrere brisante gegenwärtige Themen und rührt dabei tief an in uns allen schlummernden Ängste. Doch das Wagnis gelingt - weil Wagner den Spagat zwischen Empathie und Zurückhaltung beherrscht und literarische Kriminalromane schreibt wie kaum jemand sonst.
Besprechung vom 20.02.2020
Böses kommt näher
Jenseits von Finnland: Jan Costin Wagner stellt seinen neuen Krimi vor. Er spielt in der Region.
Von Florian Balke
Ein Kind wird entführt. An einem schönen Sommernachmittag, mitten auf dem Schulhof. Seine Mutter und seine Schwester haben den kleinen Jungen zwischen den Vorbereitungen für einen Flohmarkt nur kurze Zeit aus den Augen verloren. Jetzt liegt auf einem der für den Trödel bereitgestellten Tische ein großer Teddy, der zuvor nicht da war. Einen zweiten trägt der kleine Jannis. Mit Hilfe des Kuscheltiers hat der Entführer sich sein Vertrauen erschlichen. Was Marko durch den Kopf geht, während er Jannis zum Auto führt, um mit ihm irgendwohin zu fahren, weiß der Leser von Anfang an so gut wie der Verbrecher selbst. Und er weiß es besser als die beiden Kommissare Ben Neven und Christian Sandner, für die das mühevolle Suchen nach dem vermissten Kind beginnt.
Wie oft bei Jan Costin Wagner gehört der Blick in die Gedanken des jeweiligen Täters genauso zum Buch wie der in die Gefühle der Opfer und ihrer Angehörigen sowie der Ermittler. Die Leser des 1972 in Langen geborenen Autors wissen, dass Kriminalromane aus seiner Hand stets mehr sind als die nachträgliche Aufklärung fertig vorgefundener Morde. Bei ihm geschieht vieles gleichzeitig - das moralisch Fragwürdige und der Versuch, ihm rationalen Einhalt zu gebieten. Das Tun des Täters, das Fürchten vor Tod, Schmerz, Wissen und Unwissen sowie die Alltagshürden und die unvermuteten Fortschritte des Ermittelns stehen gleichrangig nebeneinander. Zusammen wirkt all das, obwohl im neuen Roman noch lakonischer als bisher erzählt und fast schon so kurz angebunden dahingeschlenzt wie von Lee Childs Jack Reacher, so chaotisch und lebendig wie die Wirklichkeit selbst.
Bisher schien die Lakonie etwas mit Finnland zu tun zu haben, zu dem der Autor familiäre Beziehungen pflegt und wo er seit 2003 sechs Romane um Kommissar Kimmo Joentaa angesiedelt hat, von "Eismond" bis zu "Sakari lernt, durch Wände zu gehen". Statt Eis und Schnee nun ein Sommer im Rhein-Main-Gebiet, zwischen Wiesbaden-Biebrich und dem Frankfurter Flughafen. Beibehalten hat Wagner in "Sommer bei Nacht" nur die von ihm gerne inszenierte Ambivalenz von Hell und Dunkel, die sich mit finnischen Nächten ebenso leicht verbinden lässt wie mit hessischen Tagen, treten erst das Verbrechen und das mit ihm verbundene Leid in ein menschliches Leben.
Dass der Leser dabei zu jedem Zeitpunkt mehr weiß als die Eltern des kleinen Jungen oder die beiden Polizisten und ihre Kollegen, steigert die Effektivität von Wagners Schreiben nur noch. Schließlich nützt ihm das Wissen ja nichts, sondern steigert lediglich sein Gefühl der Hilflosigkeit. Geübt dreht Wagner, der schon oft als großer Psychologe, aber viel zu selten als grandioser Manipulator gewürdigt wurde, an den Schrauben seiner Erfindung. Auf Seite 59 öffnet sich hinter der eigentlich erzählten Geschichte ein moralischer Abgrund, der für die Dramaturgie von "Sommer bei Nacht" kaum Folgen hat, für weitere Bände der vom Verlag angekündigten neuen Reihe aber noch sehr interessant zu werden verspricht. Und auf Seite 174 beginnt ein großes Finale, das die gesamte zweite Hälfte des Romans umfasst und den Leser lange mit der Frage quält, ob ein weiteres Verbrechen vielleicht doch noch verhindert werden kann. Mit "Sommer bei Nacht" ist Wagner am 27. Februar auch in Bad Soden und am 5. März in Wiesbaden zu Gast.
JAN COSTIN WAGNER
25. Februar, 20 Uhr, Frankfurt, Romanfabrik
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