Was der internationale Bestseller »Der größere Teil der Welt« für die Musikindustrie, ist »Candy Haus« für die Welt der Start-ups
Mit ihrem Roman »Der größere Teil der Welt« gelang Jennifer Egan der internationale Durchbruch. Jetzt knüpft sie in ihrem neuen visionären Roman »Candy Haus« über unsere Gegenwart ein schillerndes Netz aus Lebensläufen. Im Mittelpunkt steht der charismatische Bix Bouton, Gründer eines atemberaubenden Start-ups in Amerika. Sein Coup ist eine App, die unsere Erinnerungen ins Netz hochlädt. Ein gefährliches Glück, denn die Erinnerungen werden für andere sichtbar. Und da ist Bennie Salazar, Ex-Punk-Rocker, der als Musikproduzent in Luxus driftet und seinen Sohn an die Sucht verliert . . .
New York, Chicago, Los Angeles - die Wüste, der Regenwald: Mit vor Energie funkelnden Figuren erzählt Egan von der Suche nach Familie und Geborgenheit in einer Zeit, in der die digitale Welt unsere Sehnsüchte auffrisst.
Besprechung vom 15.10.2022
Probe aufs Informationszeitalter
Alles hochladen: Der Brief- und Tweetroman "Candy Haus" von Jennifer Egan ist ein raffinierter Zwilling ihres Erfolgsbuchs "Der größere Teil der Welt".
Das Problem wird sich tatsächlich nicht sehr vielen stellen, aber einmal angenommen, wir hätten daheim einen echten Mondrian, etliche Millionen wert, der unversichert an der Wohnzimmerwand hängt (weil alle angefragten Versicherungen die Alarmanlage ungenügend fanden): Wie ließe der sich wohl am besten schützen?
Die Antwort ist verblüffend einfach: Man umgebe ihn mit reichlich Mondrian-Merchandising-Artikeln, also Kerzenhaltern, Vasen, Regenschirmen, Tabletts, Platzdeckchen, Handtüchern, Kissen, Postern und bestickten Hockern sämtlich im charakteristischen Design aus farbigen Quadraten und schwarzen Linien in rechten Winkeln. Damit wäre das Original bis zur Unkenntlichkeit getarnt, denn "wer einen echten Mondrian besitzt, würde sich nie diesen Schund kaufen". Das wahrhaft Unverwechselbare und einzig Wertvolle kann nur im Schwarm von Fakes und Nachgemachtem überleben.
Das ist so eine kalifornische Einsicht, wie man sie in diesem Roman lernt. Sie stammt von Abuela Salazar, einer mittlerweile alten Dame, Mutter von fünf Kindern, frühen Witwe und einst honduranischen Schachmeisterin. Das Vermögen ihrer Schachprämien hat sie zunächst in Bitcoins angelegt, bevor sie sich damit den Mondrian ersteigern konnte, den sie laut eigenem Bekunden vorrangig zu selbsttherapeutischen Maßnahmen nutzt: "Wenn ich mich hier verloren fühle, finde ich mich dort wieder", erklärt sie ihrem Enkel Chris. "In der zweidimensionalen Welt werden Probleme kleiner."
Wo und wie man sich selbst findet oder wiederfindet, ist bei Jennifer Egan seit Langem ein Zentralthema. Um es zu erkunden, erfindet sie mit ihren Texten raffiniert verschlungene Erzählgehäuse, in denen sie ihre Figuren und zugleich auch uns als Leser auf die Suche schickt. Auf gewundenen Pfaden mit vielen Abzweigungen sowie Seitenöffnungen, die uns beim Vorübergehen unvermittelt Ausblick auf andere Erlebniswirklichkeiten bieten, bewegen wir uns in ihrem Roman wie durch ein Labyrinth, das immer wieder Déjà-vus verschafft. Beispielsweise die Familie Salazar, die uns wie die meisten der Protagonisten von "Candy Haus" vor gut zehn Jahren schon einmal begegnet ist: im Vorgänger- und Zwillingsroman "Der größere Teil der Welt", mit dem Egan 2011 den Pulitzer-Preis gewann.
Man muss sich auch auf allerhand kleinere Figuren und Details besinnen können, um irgendwann herauszukriegen, wie die Puzzleteilchen zueinander passen. Wer daran Spaß hat, wird bei dieser Suche lustvoll fündig. Nicht umsonst verweist schon der Romantitel auf das Knusperhäuschen aus "Hänsel und Gretel", das den Besuchern so viel Lust verheißt: jede Süßigkeit ein Treffer. Doch man braucht den früheren Roman gar nicht zu kennen, um sich an dem Vexier- und Suchspiel zu beteiligen. "Candy Haus" ist selbst bereits nach dem Prinzip verschachtelter Geschichten gebaut, die immer wieder perspektivisch anders ansetzen, bevor sie den Blick auf schon Bekanntes freigeben.
Abermals setzt sich das Buch aus einer Erzählsequenz von verlinkten Einzelabschnitten zusammen, ein gutes Dutzend insgesamt, teilweise zuvor als Storys schon veröffentlicht, die nicht chronologisch präsentiert werden und in unterschiedlichen Erzählweisen gestaltet sind. So werden wir beständig zu allerhand Verbindungs- und Erinnerungsarbeit angespornt. Am spektakulärsten sicher mit der Spionagegeschichte einer Mata-Hari-Figur, die in einer Folge von Hunderten Tweets übermittelt wird (und tatsächlich erstmals in diesem Medium veröffentlicht wurde: vor zehn Jahren vom "New Yorker"). Ein anderer Abschnitt kommt ganz als E-Mail-Kommunikation daher, was, vergleichsweise konventionell, das alte Verfahren des Briefromans aufnimmt.
Dazu erfindet Egan ein passendes Handlungselement. Etliche ihrer Geschichten sind in einer nahen Zukunft angesiedelt, unserer Zeit rund ein Jahrzehnt voraus, und verhandeln technische Innovationen, die an die Stelle der sozialen Medien getreten sind. Hardware sind die menschlichen Gehirne, deren Bewusstseins- und Gedächtnisarbeit neuerdings direkt verfügbar gemacht und geteilt wird: Alles lässt sich hochladen. "Own your Unconscious" heißt die App (in der brillanten deutschen Version von Henning Ahrens, die allerdings an diesem Knackpunkt leider unscharf wirkt: "Besitze Dein Unterbewusstes"), wahlweise mit Editorfunktion, um unliebsame Inhalte daraus einfach zu entfernen. Denn in der Fortentwicklung dieser Mnemotechnik können Nutzer die persönlichen Erinnerungen in einer Art Cloud allen anderen zur Verfügung stellen und im Kollektivbewusstsein nach Belieben surfen oder streamen, um vergangenes Geschehen aus der Erlebnisperspektive anderer Beteiligter abermals zu besichtigen.
So erfährt eine Figur, wie sich die London-Reise, die sie mit dem Vater einst als Teenager unternommen hat, eigentlich aus dessen Sicht ausnahm. Oder eine Tochter durchlebt mit einer Mischung aus Amüsement und Schrecken den ersten Drogentrip, auf dem ihr Vater in den Sixties bewusstseinserweiternd unterwegs war. "Erobere deine Erinnerungen zurück" und "Wisse um dein Wissen" lauten die Slogans, mit denen der Techkonzern, der diese schöne neue Welt eröffnet, für seine Produkte wirbt.
Doch insgesamt hält die Autorin deutlich Abstand zu derlei Fortschrittseuphorie. Nicht nur bevölkert sie ihren Roman mit allerhand Renegaten, Hochladegegnern und Datenverweigerern, die sich dem allgemeinen Wohlfühltaumel der Verfüg- und Teilbarkeit entziehen und dessen Glück infrage stellen: "Wie alle anderen, die Informationen sammeln, stehe ich aber vor einem Problem: Was kann ich damit anfangen? Wie soll ich das Wissen ordnen, verarbeiten, verwenden? Wie kann ich verhindern, darin zu ertrinken?" Anstatt für mediale Glücksversprechen interessiert sie sich viel mehr für deren erzähltechnische Korrelate, wie sie die Kunst der Fiktion ausmachen, vor allem das allwissende Erzählen, das immer schon so tut, als könnte es sich jeglicher Erlebnisperspektive anpassen: eines der ältesten Medien überhaupt, um sich von der eigenen Rolle probehalber zu entfremden.
So lässt sich Egans kunstvoll ausgetüftelte Erzählwelt mit den unterschiedlichen Verfahren letztlich als Versuchsanordnung einer großen zeitgenössischen Autorin lesen, die das eigene Vorgehen erforschen und im Informationszeitalter die Möglichkeiten ihres Tuns erproben will, getrieben von der Grundfrage, die das Erzählen seit jeher in Gang setzt: Was eigentlich ist eine Geschichte? Wie es zum Ende heißt: "Alles zu wissen bedeutet aber, nichts zu wissen; ohne Story haben wir es nur mit zusammenhanglosen Informationen zu tun." TOBIAS DÖRING
Jennifer Egan:
"Candy Haus". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 416 S., geb.
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