Besprechung vom 14.08.2024
Wem wir nicht gewachsen sind
Kindheitszweifel und Zweifel an den Kindern gehen auseinander hervor: Jessica Linds "Kleine Monster" ist ein großer Familienroman.
Der neue Roman der österreichischen Schriftstellerin Jessica Lind ist vor drei Wochen erschienen und war zwischenzeitlich schon kurzfristig vergriffen. Das liegt natürlich einerseits am Thema: wechselseitige Probleme zwischen Eltern und Kindern - das fasziniert und provoziert immer von Neuem, weil es jeden angeht, denn jeder hat zumindest eine Hälfte dieser Rollen schon gespielt. Es liegt aber auch an der Art und Weise, wie Jessica Lind schreibt. Ihr vor drei Jahren erschienener Debütroman "Mama" bot schon ein ähnliches Thema auf (wenn auch noch ohne Kind; da ging es ums Erlebnis einer Schwangerschaft), aber auch eine Erzählstimmung, die einen Großteil des potentiellen Publikums ausschloss: Lind ist eine Kennerin und Könnerin des Horrorgenres.
Und so hätte man vom Titel ihres zweiten Romans auch stilistisch auf eine Fortsetzung schließen können, doch dem ist nicht so. Wobei es immer noch die souveräne Inszenierung von Bedrohung und Unheimlichkeit gibt: wenn sich die Blicke des siebenjährigen Luca und seiner Mittdreißiger-Mutter Pia kreuzen. Wenn Pia, die Icherzählerin des Romans, in einem Moment des Zweifels den Sohn in einem Wandschrank festsetzt. Wenn sie ein gemeinsam mit ihrem Mann Jakob und Luca bezogenes Gästezimmer von innen abschließt - und zwar nicht, damit niemand eindringen, sondern damit niemand ausbrechen kann. Aber das sind diesmal nur winzige Momente, die jedoch einem hellsichtigen Buch über ein dunkles Motiv jene Zwielichtzonen verschaffen, die eine Lektüre erst spannungsreich machen. Und Lind weiß diese Spannung zu schüren: "Jakob denkt wie einer, dem in seinem Leben nichts Schlimmes passiert ist. Und so ist es ja auch. Deswegen brauche ich ihn. Weil er glaubt, dass es mehr Gutes gibt als Schlechtes. Ich brauche das Helle, das Jakob ist. Auch wenn es mich regelmäßig an den Rand des Wahnsinns treibt." Da wissen wir noch nicht, was Pia selbst denn so Schlimmes widerfahren ist.
Was wir wissen, und das von Beginn an: Pia und Jakob leben in St. Pölten (der Heimatstadt von Jessica Lind, eine Stunde von Wien entfernt und in Österreich nicht eben bestbeleumundet), Luca geht in die zweite Klasse, und eines Tages beschuldigt ihn eine Mitschülerin, sich im sonst leeren Klassenraum vor ihr entblößt zu haben. Die Lehrerin sucht das Gespräch mit den Eltern und wühlt damit im weiteren Verlauf der Handlung Erinnerungen an Pias eigene Kindheit auf. In der es aber keine vergleichbaren Erlebnisse gegeben hat, sondern familiäre Harmonie, die durch ein Unglück zerstört wurde. Wodurch bei Pia ein Misstrauen gegenüber kindlichem Verhalten geschaffen wurde, das sie nun beim eigenen Sohn nicht abstellen kann. Zu Jakobs Befremden.
Der Roman legt eine Fährte aus, die sich in zahlreichen Windungen durch Pias ganzes Leben zieht: von ihrer unerwarteten Geburt, als die Eltern schon einen Adoptionsantrag für ein Mädchen gestellt hatten, der ihr dann die nur wenig jüngere Schwester Romi bescherte, deren Verhältnis zu Pias Mutter die Ältere immer mehr ins Grübeln brachte, bis zu Romis Auszug als Teenagerin. Danach ist der Kontakt zwischen den Schwestern abgebrochen, auch weil Romis Rolle bei dem familiären Unglücksfall für Pia ungeklärt geblieben ist - die Erwachsenen sprachen mit der seinerzeit Achtjährigen nicht darüber; sie tun es bis heute nicht.
Aus den "kleinen Monstern" des Titels, der sich einer flapsigen Bemerkung der Mutter von Lucas bestem Schulfreund verdankt, werden große: Auch bei ihnen ist das, was man als Monstrosität wahrnehmen könnte, ein unschuldiges Phänomen, bedingt durch seelische Verletzungen während der Kindheit. Davon erzählt der Roman. Aber eben nicht als Horrorstory, sondern in drei fein gesponnenen Psychogrammen: von Pia, Luca und Romi. Wobei nur die Icherzählerin im Erwachsenenalter begleitet wird. Da der Roman nur einen Handlungsraum von einem knappen halben Jahr abdeckt, könnte nur spekuliert werden, was in Luca durch das Misstrauen seiner Mutter ausgelöst wird, und Romi hat zwar zum Schluss einen Auftritt, doch der bleibt so offen wie das ganze Buch. Wobei diese Offenheit genau das ist, was in Pias Leben gefehlt hat.
Linds psychologische Feinfühligkeit erweist sich auch im Porträt von Pias Mutter, deren Umgang mit ihren Töchtern in einem den ganzen Roman durchziehenden subtilen Spiel mit anderen Eltern-Kind-Beziehungen kontrastiert wird und in die Existenz einer Großmutter mündet, die ihren Frieden mit sich selbst nie gemacht hat, obwohl sie Pia als denkbar starke und entsprechend kompromisslose Frau erscheint. In den Schilderungen ihrer langjährigen Partnerschaft mit Pias Vater, dem gereizten Familienleben von Jakobs Schwester und dem religiös bestimmten Verhalten von Pias Schwiegereltern treten zudem weitere Partnerschafts- und Eltern-Konstellationen zutage, die aus "Kleine Monster" geradezu eine Anthologie des traditionellen Familienlebens machen. Sowie dessen Herausforderung angesichts eines gewandelten Bildes von Elternschaft, das auf partnerschaftliches Agieren abstellt, ohne dass die Kinder dem im buchstäblichen Sinne gewachsen wären.
Dadurch wird aus dem Roman aber kein Lehrbuch. Jessica Lind hat keine Botschaft, sie betreibt Phänomenologie. Und gerade deshalb liest man die Geschichte mit so viel Gewinn. Pia stellt im Laufe der Handlung alles infrage und geht daraus nun selbst als starke Frau hervor. Ob das indes zum Nutzen auch ihrer Nächsten sein wird, steht nunmehr für uns infrage. "Jakob sieht nicht, was ich sehe", wird Pias anfangs zitierte Charakterisierung neunzig Seiten später fortgesetzt: "Weil er das Dunkle nicht kennt. Aber ich kenne es, und wenn Luca auch so ist, dann ist er es wegen mir." An diesem grundlegenden Dunkel ändert sich auch durch Pias neu gewonnene Hellsichtigkeit nichts. ANDREAS PLATTHAUS
Jessica Lind: "Kleine Monster". Roman.
Hanser Berlin Verlag,
Berlin 2024.
251 S., geb.
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