Die deutsche Ausgabe des «New York Times»-Nr. -1-Bestsellers «The Anxious Generation»
Drei technologische und mediale Megatrends bestimmten die frühen 2010er-Jahre: Smartphones, Social-Media-Plattformen und die Selfie-Kultur. Das Ergebnis: Eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen verwendete mehrere Stunden am Tag darauf, durch die Beiträge von Influencer:innen und mehr oder weniger fremden Nutzer:innen zu scrollen, statt sich mit Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld auseinanderzusetzen, mit ihnen zu spielen, zu sprechen oder auch nur Blickkontakt aufzunehmen. Die Mitglieder der Generation Z, die als Erste ihre Pubertät mit den neuen Medien in der Tasche durchlebten, wurden so zu Testpersonen für das Aufwachsen in einer radikal umgestalteten, zunehmend digitalen Umgebung.
Die Folgen dieses Experiments waren, wie Jonathan Haidt auf Grundlage umfangreichen Datenmaterials zeigt, katastrophal - und sie betreffen auch die heute Heranwachsenden. Die schnellste und allumfassendste Neuverdrahtung menschlicher Beziehungen führte dazu, dass sich die mentale Gesundheit der Kinder und Jugendlichen rapide und dauerhaft verschlechtert hat. Dieser Entwicklung müssen wir jetzt entgegentreten: Haidt erklärt, was Regierungen, Schulen und Eltern tun können, um Kindern ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen.
Besprechung vom 10.08.2024
Die Jugend ist mal wieder verloren
Und diesmal trägt das Smartphone die Schuld: Jonathan Haidt übt Technologiekritik
Dereinst war die Welt der Kinder heil, bis eine dunkle Macht sie ins Unglück stürzte. Nun ist es an der Zeit, den unschuldigen Urzustand wiederherzustellen. Diesem Muster folgt die Erzählung, die Jonathan Haidt in seinem Buch "Generation Angst" darlegt. Sie dürfte ein Grund für den Erfolg des Buches sein - und gleichzeitig ist sie seine große Schwachstelle.
Haidt ist Sozialpsychologe. Er lehrt an der New York University und gilt als Autor, der sich in aktuelle Debatten einmischt. Diesmal ist es die Debatte um Kinder und Technologie. Die dunkle Macht seiner Erzählung kommt in Gestalt von vier technologischen Trends daher: dem Breitbandinternet, den Smartphones, der Selfie-Kamera und "hyperviralisierten sozialen Medien", also Plattformen, auf denen Algorithmen die Aufmerksamkeit der Nutzer fesseln. Um das Jahr 2010, also als die Generation Z in die Pubertät kam, seien diese Trends zusammengelaufen.
Mit der Technologie kam das Leiden. "Die Generation Z wurde die erste Generation in der Geschichte, die ihre Pubertät mit einem Portal in der Tasche durchlebte, das sie fort von den Menschen um sie herum in ein alternatives Universum rief." Haidt präsentiert Kurven, die zwischen den Jahren 2010 und 2015 steil nach oben wandern. Da wäre der Anteil von Teenagern, die angeben, depressive Episoden erlebt zu haben (plus 145 Prozent bei Mädchen, plus 161 Prozent bei Jungen); der Anteil von Studenten, die über Angststörungen klagen (plus 134 Prozent); die Zahl der Mädchen, die sich selbst verletzen (plus 188 Prozent); die Suizidrate (plus 167 Prozent bei Mädchen, plus 48 Prozent bei Jungen).
Diese Werte beziehen sich auf die USA. Ob sie weltweit so dramatisch aussehen, lässt das Buch offen. Dennoch schreibt Haidt von einer "Pandemie psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen". Der Hauptgrund sei die - wie er es nennt - "große Neuverdrahtung der Kindheit". Die einst heile, "spielbasierte" Kindheit, in der man sich noch draußen traf und ohne Aufsicht der Eltern Spaß hatte, sei durch den Einfluss der Technologie zur "smartphonebasierten Kindheit" geworden. Das hat die Jugend - überbehütet in der realen Welt und in der virtuellen sich selbst überlassen - ins Unglück gestürzt.
Diese Erzählung ist nicht nur packend geschrieben, sie bestätigt auch eine Angst, die nicht zuletzt viele Eltern spüren: Es kann nicht gut sein, wenn Kinder auf sozialen Medien stundenlang verstörende Inhalte zu sehen bekommen und sich weniger in der echten Welt begegnen. Das dürfte auch der Grund sein, warum das Buch in den Vereinigten Staaten seit Monaten auf den Bestsellerlisten steht und Haidt durch Talkshows tourt. Doch vielleicht ist diese Erzählung gar nicht wahr.
Das Buch hat zu Protesten unter Psychologen geführt, die Haidt vorwerfen, Studien selektiv auszuwählen, das Thema zu vereinfachen und andere Faktoren für die psychische Gesundheit wie die globale Finanzkrise 2007 und 2008, die Opioid-Epidemie oder die Corona-Pandemie zu vernachlässigen. Forscher der Universität Würzburg brachten vor der Veröffentlichung des Buches in Deutschland sogar eine Stellungnahme heraus: Haidts Darstellung sei einseitig und holzschnittartig.
Die Kritiker haben den aktuellen Stand der Forschung auf ihrer Seite. Besser gesagt: Sie können belegen, dass Haidt ihn nicht auf seiner Seite hat. Denn seriöse Übersichtsarbeiten kommen zum Schluss, dass es derzeit keine eindeutigen Belege dafür gibt, dass die Technologie tatsächlich für den Anstieg psychischer Krankheiten bei Jugendlichen verantwortlich ist.
Haidt weiß das. Recht früh schreibt er: "Da die Befunde komplex und teilweise auch unter Forschenden umstritten sind, werde ich mich an manchen Stellen sicher irren." Das wirkt ehrlich. Man kann dieses Kleingedruckte aber auch als selbst ausgestellten Freifahrtschein an der wissenschaftlichen Evidenz vorbei verstehen.
In jedem Fall weiß der Leser nicht mehr, wo er dem Autor vertrauen kann, und das ist ein Jammer. Denn auch wenn die Hauptthese auf einem schwachen Fundament steht und Erinnerungen an frühere Unheilsbringer weckt (das Buch, das Kino, Comics, das Fernsehen, Ego-Shooter), beschreibt Haidt einzelne Mechanismen durchaus so, dass Experten auf dem Feld ihm zustimmen. Das betrifft etwa die Gründe, weshalb soziale Medien Mädchen eher zu schaden scheinen als Jungen; den technologisch-bedingten Schlafentzug, der auf die Psyche schlagen könnte; und den Dopamin-Kreislauf, der durch "Likes" in Gang kommt und die Jugendlichen an den Bildschirm fesselt.
Differenziert fallen auch seine Lösungsvorschläge aus, also der Teil, in dem es darum geht, das Ideal einer "spielbasierten Kindheit" wiederherzustellen. Zwar fasst Haidt sie unter plakativen Aufforderungen wie "Kein Smartphone vor einem Alter von circa vierzehn Jahren" und "Schulen ohne Smartphones" zusammen, geht aber auch darauf ein, wie schwierig solche Ideen in einer Gesellschaft, in der das Handy zur Grundausstattung vieler Schüler gehört, umzusetzen seien, und benennt sogar positive Nutzungsszenarien für Smartphones.
Das Buch regt nicht nur dazu an, über die Auswirkungen der technologischen Entwicklung und der Aufmerksamkeits-Ökonomie des Internets auf Jugendliche nachzudenken. Wenn Haidt beschreibt, wie ständig "pingende" Benachrichtigungen dazu führen, dass manche Eltern ihrem Smartphone selbst beim gemeinsamen Spielen mehr Aufmerksamkeit widmen als ihren Kindern, dann dürfte das für viele ein schmerzhaft zutreffender Anstoß sein, über das eigene Verhältnis zu Technologie nachzudenken. PIOTR HELLER
Jonathan Haidt: "Generation Angst". Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen.
Aus dem Englischen von Monika Niehaus-Osterloh und Jorunn Wissmann. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 448 S., Abb., geb.
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