Besprechung vom 12.10.2024
Unser Mann in Costaguana
Lange wurde Joseph Conrads "Nostromo" unterschätzt. Jetzt liegt der Roman aus dem Jahr 1904 in starker Neuübersetzung vor.
Von Paul Ingendaay
Von Paul Ingendaay
Die erste und wichtigste Empfehlung vor dem Lesen dieses Romans: Lassen Sie sich mitziehen, verschieben Sie Fragen auf später, lesen Sie einfach los. Vertrauen Sie dem Autor. Tauchen Sie ein in Joseph Conrads unheilvoll magisches Lateinamerika mit seinen rätselhaften Wetterlagen und karibischen Lichtwechseln, den optischen Täuschungen und immer wieder bruchstückhaften Storys verschiedenster Akteure, die eine Geschichte von Revolution und Gegenrevolution in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erzählen. Doch seien Sie auf Überraschungen gefasst. In "Nostromo" ist alles dabei: Kampfszenen und Pulverdampf, Tote in den Straßen, hohe Reden über die Freiheit, dazu Liebe, Folter, Verrat und Dynamit. Aber niemand gewinnt hier außer der nächsten Clique von Machthabern.
Der Schauplatz: die Republik Costaguana, ein Land, das ungefähr dem heutigen Kolumbien entspricht, und hier nicht die Hauptstadt, sondern der kleine Provinzhafen Sulaco, dessen windstille Bucht große Handelssegler manövrierunfähig macht. Schon die topographische Schilderung zu Beginn deutet auf Desillusionierung, man könnte auch sagen, auf ein Conrad-typisches Warnschild: Wenig ist so, wie es scheint.
Nach und nach enthüllt sich vor uns Costaguanas blutige Geschichte. Wir erfahren von der länger zurückliegenden Diktatur eines gewissen Guzmán Bento, von Grausamkeit und Ausbeutung. Es folgen ausländisches Kapital und modernere Formen der Ausbeutung, jetzt Fortschritt genannt. In Costaguana mit seinen Indios und seinem spanisch-kolonialen Erbe landet auch europäisches Strandgut aus Italien, Frankreich, England, Deutschland. Hier ein Abenteurer, dort ein alter Militär, bis ein Mikrokosmos aus expats entstanden ist, Conrads ureigenes Lateinamerika, dessen intimere Kenntnis er nicht seinen Erfahrungen als Seemann verdankte - diese Reisen lagen hinter ihm -, sondern der Lektüre von Büchern.
Und so enttäuscht der Autor die Erwartung seiner Leser auf einen herkömmlichen Abenteuer- oder Revolutionsroman. Die englische Romantradition des neunzehnten Jahrhunderts erzähle ja eher "nach vorn", schrieb Ford Madox Ford seinem Freund. Er aber, Conrad, schaffe zunächst einen intensiven Eindruck seiner Figuren und leuchte dann in Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen ihre Vergangenheit aus. Man könnte auch sagen: wie ein Staubsauger. Dass der Autor seine Geschichte nicht in chronologischer Abfolge, sondern in einem komplexen System zeitlicher Verschiebungen sowie aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, erzeugt im Laufe der Lektüre einen epistemologischen Schwindel, der uns zweifeln lässt, überhaupt etwas Verlässliches zu erkennen. Umso tiefer brennen sich die Bilder ins Gedächtnis und weiten sich zu einer Meditation über Zeit, Natur und die Verfasstheit menschlicher Gesellschaften.
Es beginnt schon damit, dass der Titelgeber nicht der Held des Romans ist. David Copperfield ist die Hauptfigur von "David Copperfield", doch Nostromo, der italienische Capataz de Cargadores, also Vorarbeiter am Dock, "unser Mann" ("nostro uomo"), fähig, eitel, selbstsüchtig und manchmal brutal, in jedem Fall nützlich für das Funktionieren des Handelsbetriebs, tritt nur in wenigen Szenen als handelndes Subjekt in Erscheinung; in den meisten Kapiteln werden seine Heldentaten beredet und kommentiert, sodass sich eher von einem System abgestufter Gerüchte sprechen ließe als von einem definierten Charakter.
Die eigentliche Hauptfigur jedoch, gleichsam das Energiezentrum des Romans, ist die Silbermine San Tomé, die in den Jahrzehnten vor der hier geschilderten Handlung von einem Engländer - unter erpresserischen Bedingungen seitens der Regierung - betrieben wurde, ohne etwas abzuwerfen. Der Sohn des Betreibers, Charles Gould, aufgewachsen in England, entdeckt nun in der Silbermine seine neue Spielwiese und bringt für das ambitionierte Projekt seine Frau Emilia mit, die zur guten Seele von Sulaco wird und in deren Salon sich die lokalen Würdenträger zum Tee niederlassen.
Schimmerndes Weiß, vom Uniformknopf über den Silberbarren bis zum silbrigen Licht am Rand der Wolken, durchzieht den Roman, ein Gleißen, das blenden kann. Conrads Kunst psychologischer Charakterschilderung zeigt sich daran, wie er jede seiner Figuren auf die Silbermine bezieht. Für den amerikanischen Geldgeber Holroyd ist sie ein kaltes Investment, das sich lohnen muss, für Gould bedeutet sie Zivilisierung durch Wohlstand (sowie Verarbeitung der Schmach des Vaters, finanziell gescheitert zu sein), für den gegenwärtigen Diktator von Costaguana stellt sie ein Mittel des Machterhalts dar. Als sich die politischen Verhältnisse verschieben, gerät eine Schiffsladung Silber ins Zentrum der sich überstürzenden Ereignisse.
Es ist der alte Dr. Monyghan, Amtsarzt der Vereinigten San-Tomé-Minen, welcher der von ihm verehrten Emilia Gould ihre naive Hoffnung auf Ruhe und Frieden nimmt, weil "materielle Interessen" - die Silbermine - niemals neutral seien. "Es gibt keinen Frieden und keine Ruhe in der Entwicklung materieller Interessen. Die haben ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Gerechtigkeit. Aber sie gründen auf Nützlichkeit und sind inhuman; sie sind ohne Aufrichtigkeit, ohne die Beständigkeit und die Kraft, die nur in einem moralischen Prinzip zu finden sind." Sein Geschichtspessimismus erlaubt dem Arzt sogar, die nahende Katastrophe auszumachen. "Mrs. Gould, die Zeit rückt näher, da alles das, wofür die Gould-Konzession steht, das Volk ebenso schwer bedrücken wird wie die Barbarei, Grausamkeit und Misswirtschaft von vor ein paar Jahren."
Auch der Mann Nostromo ist eine Schöpfung, die nahe an Conrads Auffassung von Politik und Geschichte heranführt. Spät im Roman wird dem Vorarbeiter klar, wie sehr sein kleiner Ruhm in Sulaco sein Selbstbild begründet, ja ihm überhaupt ein Fundament für sein Selbstbewusstsein geliefert hat. Zu Pferd, immer wieder zu Pferd; Nostromo schaut von oben auf die Dinge herab. Dann aber, als er erstmals durch eine kühne, eigenmächtige Tat in den politischen Lauf der Dinge eingreifen will - ein Putsch droht, und "unser Mann" will das System stützen -, muss er darüber nachgrübeln, wer er eigentlich ist. Was ihn ausmacht. Und zu wem er werden könnte. Nostromo, so stellt sich heraus, hat einem System gedient, das ihn seinerseits nur benutzt hat. So ist auch sein Tod im Grunde egal. Aber er könnte noch "sein eigener Mann" werden. Der Roman "Nostromo" setzt einem Antihelden ein Denkmal.
Zeitgenössische Leser reagierten darauf ziemlich irritiert, und Conrad erlebte mit seinem umfangreichsten Roman im Jahr 1904 einen finanziellen Misserfolg. Vielleicht standen sich seine Hoffnungen auch gegenseitig im Weg. "Nostromo", schrieb er im März 1903 in einem Brief, solle eine "erstklassige Geschichte" werden. Sieben Tage später: "Wenn ich in diesem Jahr überhaupt wieder frei atmen will, muss ich das Maximum an Geld aus diesem Buch herausholen." Das eine aber schloss das andere aus. Am Ende kostete ihn der Roman, der ursprünglich eine Kurzgeschichte werden sollte, zwei lange, zerquälte Jahre. Während des Schreibens wurde Conrad von Gicht und Depressionen heimgesucht. Zwischendurch erkrankten seine Frau und sein kleiner Sohn. In den letzten 36 Stunden der Fertigstellung musste er, weil die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren, auch noch zum Zahnarzt, und der zog ihm den Störenfried mit solcher Heftigkeit heraus, dass der Schriftsteller zusammensank. Drama! Dazu kam ständiger Geldmangel, dem Conrad mit Bittbriefen an seinen literarischen Agenten J. B. Pinker abzuhelfen versuchte.
In der Bewerbung für ein Stipendium des Royal Literary Fund wurde die Notlage des Autors begründet mit "Langsamkeit der Abfassung und Mangel an öffentlicher Würdigung". Wie wahr. Henry James, der Conrads Bewerbung unterstützte, schrieb, eigene Erfahrungen vor Augen: "Bedauerlicherweise bringt es keine Reichtümer, sehr ernst und subtil zu sein." Sehr ernst? Todernst, darf man im Hinblick auf "Nostromo" sagen. Und unfassbar subtil. Julian und Gisbert Haefs haben diesen wortmächtigen Roman in klangvolles literarisches Deutsch gebracht und dabei die Nuancen von Conrads Sprachregister bewahrt. Wer die Schwierigkeit erahnen möchte, lese ein paar Seiten des Originals. Anmerkungen, Worterklärungen und ein angemessen fortschrittsskeptisches Nachwort von Robert Menasse runden den Band ab.
In Conrads Version von Weltgeschichte als Farce erkennen wir unschwer unsere heutigen Malaisen - die Folgen des Kolonialismus und der Globalisierung und das humanitäre Gesumms der Industrienationen bei gleichzeitig erwiesener Unfähigkeit, gerechte Handelsbeziehungen für alle zu schaffen, von menschenwürdigen Regierungsformen zu schweigen. Stoff also für tieferes Nachdenken über das Ungenügende aufklärerischer Parolen, die nur unsere Hilflosigkeit verdecken. Conrad ist der politische Mythenzerstörer der Frühmoderne. Wer ihn genau liest, wird eher trauriger in die Welt schauen als zuvor, wie Robert Menasse richtig bemerkt, aber dafür ist Kunst wohl da. In dieser mustergültigen Ausgabe ist das Meisterwerk "Nostromo" neu zu entdecken.
Joseph Conrad:
"Nostromo". Roman.
Aus dem Englischen von Julian und Gisbert Haefs. Nachwort von
Robert Menasse.
Manesse Verlag,
München 2024.
560 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Nostromo" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.