Besprechung vom 05.05.2021
Bei den Edlen Wilden vom Lande
Wenn einem der böse Nachbar gefällt: Juli Zehs neuer Roman "Über Menschen" bedient sich erzähltechnisch bei sentimentalen Filmen
Der Topos von Edlen Wilden bezeichnet seit etwa dem sechzehnten Jahrhundert eine spezifische Sicht auf außereuropäische Völker als naturverbundene Wesen, unter deren wüst anzuschauendem Äußeren - Federn, Lendenschurz und so weiter - sich eine unverdorbene, reine, ja kindliche Seele befinden sollte. Für Autoren besonders im achtzehnten Jahrhundert war der Edle Wilde eine willkommene Gelegenheit, die eigene Zivilisation als zwar überlegen, aber auch korrumpiert, dekadent und unnatürlich darzustellen. So wurden Naturvölker zum Vehikel der Zivilisationskritik, im allerbesten Fall ließ sich diese Verklärung wenigstens noch gegen Konzepte wie Sklaverei und Ausbeutung der Kolonien in Stellung bringen. Manchmal, wenn man Juli Zehs neuen brandenburgischen Dorfroman liest, kommt einem dieses Motiv wieder in den Sinn.
"Über Menschen" handelt von Dora, einer Berliner Werbetexterin, die vor Corona und ihrem in vielerlei Hinsicht fanatischen Lebensgefährten aufs platte Land flieht. Hinter ihr liegt das Berliner Agenturleben mit dem Fahrrad "Gustav" - ja, das Fahrrad hat einen Namen -, dem Partner Robert (der Karikatur eines Gutmenschen, der Greta Thunbergs Reden mit religiösem Eifer folgt), dem üblichen Gewese um laktosefreie Kaffeespezialitäten und der Hündin "Jochen" in einer Kreuzberger Altbauwohnung. Also das, was einem als Erstes einfällt, wenn man an Berlin denkt. Vor ihr liegt ein verwilderter Garten, in dem ein Gemüsebeet entstehen soll, denn noch besser als Bio ist selbst angebaut. Nun stellt sich aber heraus: Das ist gar nicht so einfach, das mit dem Garten.
Und dann ist da natürlich die wunderbare Natur. Ach, der Wald! Den hat Dora schon immer geliebt: "Dieses riesige, atmende Wesen, voller Leben und Betriebsamkeit und zugleich von unerschütterlicher Ruhe. Der Wald will nichts von ihr. Er braucht keine Unterstützung. Er kümmert sich mit großem Erfolg um sich selbst. Zwischen Bäumen, die größer und älter sind als ein Mensch, kommt sich Dora auf erleichternde Weise unbedeutend vor." Endlich einmal nicht darüber nachdenken, ob man beim Einkaufen den Leinenbeutel vergessen hat, es könnte so schön sein, wäre da nicht diese plattitüdenhafte Sprache. Aber gehen wir mal davon aus, es hier mit einem Unterhaltungsroman zu tun zu haben und nicht mit Literatur, und konzentrieren uns auf die Handlung.
Das Gutsverwalterhaus in dem Ort namens Bracken, das zwischenzeitlich als Dorfkindergarten fungierte und dann lange leerstand, ist groß und billig. Dort richtet sich Dora ein, so gut es geht, Platz ist genug da für Hund und Laptop. Bald lernt sie ihre Nachbarn kennen: Gote, den Dorfnazi, der nebenan wohnt und ihr ab und zu ungefragt Möbel hinstellt, weil sie keine hat. Das Paar Tom und Steffen, der eine Florist, der andere Kabarettist. Die alleinerziehende Mutter Sadie, die Nachtschichten schiebt, um über die Runden zu kommen. Die Nachbarn bringen Saatkartoffeln für das frisch angelegte Gemüsebeet vorbei oder nehmen Dora mal mit zum Einkaufen. Knorrige Menschen, das Herz am rechten Fleck. Also das, was einem als Erstes einfällt, wenn man an Brandenburg denkt - oder wenn man auch schon Zehs früheren Roman "Unterleuten" gelesen hat.
Dorfnazi Gote, der direkt hinter dem Gartenzaun in einem Bauwagen samt Geranien vor dem Fenster haust, ist ein typischer Vertreter seiner Art. Er wählt AfD, singt gelegentlich im Garten mit seinen Kumpeln das Horst-Wessel-Lied, säuft und stach früher auch mal einen Linken ab, aber was soll man auch machen, so abgehängt und ohne öffentlichen Nahverkehr. Und den Diesel will man diesen wackeren Leutchen auch noch wegnehmen. Dora schwankt zwischen Abneigung und, ja, "Ehrfurcht" vor diesen Dörflern. Einerseits sind sie so nett und fleißig, andererseits halt auch Rassisten, aber dann streichen sie einem wieder die Wand. Der Roman zeichnet die recht schlichten Gedankengänge Doras angesichts dieser Umstände nach, geht aber nicht sonderlich weit über die üblichen Reportagen hinaus, die man nach jeder Wahl regelmäßig über ostdeutsche Problemzonen lesen kann.
Allerdings legt Zeh bei aller politischen Positionierung sehr viel Wert darauf, dass es am Ende alles heftig menschelt. Man hilft einander, man hört sich zu, man schafft es zu trauern, auch wenn man sich nie mochte oder das Gegenüber etwas müffelt. Man ist sich Nachbar. Dieser Gote stand mal etwas zu nah daneben, als ein Linker abgestochen wurde, aber vielleicht war er's ja doch nicht, Rostock ist lange her, außerdem baut er Holzbänke für den nahen Wald, hat seine Tochter lieb und ist schwer krank im Kopf. Was soll man da machen?
Natürlich bleiben Menschen Menschen, auch wenn sie rechtsradikale Ekel sind. Und rechte Ekel bleiben rechte Ekel, auch wenn sie Möbel bauen und ihre Töchter lieb haben. Und wenn man es ganz genau nimmt, könnte man noch einwenden, dass auch in der Stadt nicht nur Schablonen leben, die ein eindeutiges Gutmenschendasein oder eine reinrassige Agenturmaus-Existenz leben, und auf dem Land nicht nur widerständige Schubladenverweigerer. Die Dichotomie vom Edlen Wilden einerseits und dem zivilisatorisch kurz vor den Dekadenz-Kipppunkt hochverzärtelten Kulturmenschen aus der Großstadt andererseits geht eventuell schon seit dem sechzehnten Jahrhundert so nicht ganz hundertprozentig auf.
Warum Dora nun ein brandenburgisches Dorf für die Erkenntnis braucht, dass Menschen nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen, ist eher einer dieser Erzähltricks, die man aus vielen sentimentalen Filmen kennt. Menschen lernen erst angesichts des Todes ihr Leben zu schätzen, entdecken angesichts von Dorfnazis ihre Menschenliebe, so etwas.
Man kann das machen, es ist ja auch ganz unterhaltsam, man sollte am Ende nur nicht allzu viel bundesrepublikanische Gegenwartspolitik hineinprojizieren. Es liest sich flott, die Sätze sind kurz. Und auch sonst wird dieses Buch Juli-Zeh-Leser nicht enttäuschen, Juli-Zeh-Verächter und Freunde der nichtschiefen Metapher aber auch diesmal nicht bekehren. Wir warten jedenfalls gespannt auf die ZDF-Verfilmung - für einen Mehrteiler wie bei "Unterleuten" ist das Material diesmal zu dünn.
ANDREA DIENER
Juli Zeh: "Über Menschen". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2021.
416 S., geb.
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