Besprechung vom 27.05.2020
Will man wirklich zurück in die Höhle der Kindheit?
Schlittern erlaubt: Das Erinnerungsbuch von Agneta Blomqvist und Lars Gustafsson führt an schwedische Seen und in weniger idyllische Gefilde
Kindheitsmustern folgen Agneta Blomqvist und Lars Gustafsson in ihrem gemeinsamen Erinnerungsbuch "Doppelleben". Sie fragen sich, wohin die erste Erinnerung zurückreicht, beziehen noch einmal Kinderzimmer und Schulstuben, besichtigen Spielgerät und Lektürestoff, gedenken Eltern, Geschwistern und Freunden. Und wir folgen den beiden zu den schwedischen Seen, zum Meer in lichtreiche Sommer und in den Schnee. Der große Erzähler und seine Frau spielen Erinnerungs-Quartett, unterstützt durch eine Vielzahl von Fotografien aus ihrem Privatbesitz. Andere mögen in Altersschwermut verfallen, der 2016 verstorbene Lars Gustafsson und Agneta Blomqvist, seit 2005 miteinander verheiratet, führen in dem jetzt ins Deutsche übersetzten Werk lieber sanft zurück in die schwedische Kindheit der vierziger Jahre.
Im rhythmischen Doppelschritt des Paarlaufs gleiten sie durch ihre Kindheit. Was nicht bedeutet, dass es nicht ein paar starke Kontraste zu besichtigen gäbe: Blomqvist war mit vier Geschwistern in einer Villa aufgewachsen, Gustafsson hingegen als Einzelkind unter einfachsten Verhältnissen. Sein Schlafplatz war jahrelang ein Ausziehbett in der elterlichen Küche. Agneta wird früh schon mit Vorstellungen konfrontiert, was Mädchen vermeintlich nicht können oder dürfen. Lars lernt schnell, auch noch durch die kleinste Aufsichtslücke zu schlüpfen. Bis hin zur einsetzenden Pubertät lassen die beiden ihre Erinnerungen schweifen, dann - so bekunden sie - solle besser Schluss sein.
Man verrät nicht zu viel vom Charme dieses Buchs und von den beiden Charakteren, die hier entworfen werden, wenn man der beiden Vorliebe für das Schlittern auf spiegelglatten, gerne auch stark abschüssigen Rutschbahnen erwähnt. Gustafsson erinnert sich, dass diese fleißig errutschten Eisstreifen einst "Skrillorna" hießen. Ein onomatopoetisch anmutendes Wort (nah zum Schlittern), das Gustafsson, wie er verschmitzt berichtet, in seine Übersetzung von Seamus Heaneys Gedichten eingeschmuggelt hat. Aufs Schlittern hätten Blomqvist und Gustafsson sich also trotz aller Unterschiede einigen können. Weiß man damit nicht schon eine Menge über dieses Paar?
Die Gefahr solch eines Erinnerungsbuchs liegt in der schonungslosen Idealisierung der Vergangenheit, die ihrerseits einen Sehnsuchtssog auslöst. Klar hält Blomqvist daher fest: "Sich zurückzusehnen ist aber Selbstbetrug, wie José Valente in einem Gedicht schrieb. Ich sehne mich nicht zurück, aber ich merke immer mehr, wie wichtig meine frühesten Jahre gewesen sind." Nein, früher herrschte keine Idylle, obwohl man damals - o Ökotraum - noch selbstverständlich "mit Korb oder Stofftasche zum Einkaufen auf den Markt" ging, denn "Einwegverpackungen waren nahezu unbekannt". Und wenn man auch schon mit dem Auto für die Sommerferien nach Dänemark fuhr, dann stand doch fest: "Wenn wir draußen am Meer in Bohuslän die Strände entlanggingen, gab es kaum angeschwemmten Müll." Kein Müll nirgends, dafür aber ein paar sadistische Lehrer, willkürlich verbietende Eltern, gemeine Nachbarn und fiese Jungs. Die Aufzählung zeigt, dass der Fokus der Betrachtungen stark aufs Kindliche begrenzt bleibt.
Wahrnehmungssperren bewahren davor, zu weit über die persönlichen oder gar schwedischen Verhältnisse hinauszuschauen. Immerhin tobte während der Kindheitsjahre der Zweite Weltkrieg. Aber das ringsum ruhende Stockholm erlaubt wie das kleinstädtische Västerås offenbar auch im Rückblick, die Kriegsschrecken nur dreimal kurz aufblitzen zu lassen; etwa weil die "Hausschneiderin einer Freundin" den Mädchen ab und an die Nummer auf ihrem Arm zeigte, die man ihr im KZ eintätowiert hatte. Und wenn Gustafsson erzählt, wie die Jungs ihren Kellerkorridor des Hauses Nummer 26 in ein Raumschiff verwandelten, wenn er betont, dass sie im April 1945 aus dem imaginären Raumschiff aussteigen, und "die Frühlingsvögel sangen, sanfte Wolken zogen dahin", dann ahnt man nur von weitem und ungefähr den "Rauch durch die Luft", der von den Schornsteinen der "sinnreich erdachten Wohnungen des Todes" aufgezogen war.
Kindheitserinnerungen schützen, auch wenn Gustafsson im besagten Keller von einem Zimmer erzählt, das "wohl als Hobbyraum oder Partyraum" gedacht war, in dem aber lange eine Familie wohnte, "von der man nichts wusste, als dass sie arm war". Sicher wusste "man" mehr, aber Gustafsson bewahrt sich den sorglosen Kinderblick. Aber wozu solche Anmerkungen. Darum geht es in diesem "Doppelleben" eben nicht. Schauen wir stattdessen also Gustafsson zu, wie er Buch für Buch, zuerst als Leser, dann als Autor zu einem der herausragenden Schriftsteller der vergangenen Jahrzehnte avanciert. Oder wie Blomqvist im Nachhinein selbstironisch bemerkt, dass der winterliche Schneemannbau doch eigentlich in eine spätere Bildhauerkarriere hätte münden müssen. Zwei Erfolgsgeschichten, voller gediegenem Bildungsinventar, verziert mit Gustafssons spitzbübischem Humor. Heideggers Philosophie der "Langeweile" in einem gewitzten Satz zusammenfassen? Kein Problem für Gustafsson: "In der Langeweile zeigt sich das Erleben der Zeit seiner Unterhosen beraubt." Entblößtes Zeiterleben ist in diesem kurzweiligen Fall nicht zu befürchten. Vielleicht versteckt sich in Schweden doch ein Eden?
CHRISTIAN METZ
Lars Gustafsson, Agneta Blomqvist: "Doppelleben".
Aus dem Schwedischen
von Verena Reichel.
Carl Hanser Verlag,
München 2020. 144 S., Abb., geb.
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