Albanien 1989: Der letzte stalinistische Außenposten in Europa, ein isoliertes Land, das man nur schwer besuchen und noch schwerer verlassen kann. Es herrschen Mangelwirtschaft, Geheimpolizei und das Proletariat. Der Kommunismus hat den Platz der Religion übernommen. Für die zehnjährige Lea Ypi ist dieses Land ihr Zuhause: Ein Ort der Geborgenheit, des Lernens, der Hoffnung und der Freiheit.
Alles ändert sich, als in Berlin die Mauer fällt und in Tirana Enver Hoxhas Statue vom Sockel stürzt. Jetzt können die Menschen wählen, wen sie wollen, sich kleiden, wie sie wollen, anbeten, was sie wollen. Aber die neue Zeit zeigt bald ihr unfreundliches Gesicht: Skrupellose Geschäftemacher ruinieren die Wirtschaft, die Aussicht auf eine bessere Zukunft löst sich auf in Arbeitslosigkeit und Massenflucht. Als das Land im Chaos zu versinken droht und in ihrer Familie Geheimnisse ans Licht kommen, beginnt Lea sich zu fragen, was das eigentlich ist: Freiheit.
In hinreißender Prosa erzählt Lea Ypi von ihrem Erwachsenwerden im poststalinistischen Albanien und einer schillernden Familie, deren Geschichte eng mit der des Landes verwoben ist. Frei ist ein fesselndes Memoir und eine scharfsinnige Reflexion über die Grenzen des Fortschritts und die Last der Vergangenheit, über glänzende Ideale und harte Realitäten. Vor allem aber über die Leben von Menschen, die vom Sturm der Geschichte erfasst werden.
Besprechung vom 13.03.2022
Ein Leben in zwei Hälften
Die albanische Philosophin Lea Ypi beschreibt in ihrem Memoir, warum sich Freiheit in Ideen nicht begreifen lässt
Als die Zukunft ihres Landes begann, brach die Welt von Lea Ypi zusammen. Im Sommer 1990 hatte der Zerfall des Ostblocks auch Albanien erreicht, das Land, das unter den abgeschotteten Diktaturen Osteuropas als das abgeschottet-ste und diktatorischste galt. Für Ypi war es lange das Reich der Freiheit, ein Staat, der sich tapfer und einsam den Irrwegen der ganzen Welt entgegenstellte, dem Kapitalismus mit seinen falschen Versprechungen genauso wie jenen Verwirklichungen des Sozialismus, die dessen Ideale schon lange aufgegeben hatten. Wenn es überhaupt etwas Besseres geben könne als die Diktatur des Proletariats, dann nur der wahre Kommunismus, den sie, so jedenfalls versicherte es ihr ihre Lehrerin Nora noch Monate vor dem Zusammenbruch des Regimes, eines Tages erleben würde.
Nun aber, einige Wochen nach ihrem 11. Geburtstag, lösten sich all ihre Gewissheiten auf: Im November 1990 kam es zu Massendemonstrationen, am 12. Dezember gründete sich die Demokratische Partei, und das Land wurde offiziell zu einem Mehrparteienstaat erklärt. Und während viele die neue Freiheit bejubelten, musste Ypi erst lernen, warum sie diese nie vermisst hatte.
Wie radikal diese Zäsur für Ypi war, die heute als Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics arbeitet, beschreibt sie in ihrem Buch "Frei". Und weil sie diese Welt aus der Perspektive jenes jungen Mädchens schildert, dessen Kindheit damals schlagartig zu Ende ging, erlebt man auch als Leser das Ende der Diktatur beinah als Schock. Ypis Blick befreit die Welt jenseits der undurchdringlichen Grenzen und ihre Binnenlogik von der arroganten Exotik, mit der man immer noch gerne auf Albanien schaut.
Alles klingt sehr plausibel: Der Streit mit den Nachbarn um eine leere Coladose, die als Schmuckstück in albanischen Wohnzimmern so begehrt war. Das raffinierte System des Schlangenstehens und die Rolle stellvertretender Objekte wie Taschen oder Steine darin. Das "subtile Gleichgewicht" aus Gehorsam und Regelbruch. Der Wunsch, endlich auch ein Porträt von "Onkel Enver" im Wohnzimmer hängen zu haben, den die Eltern seltsamerweise nie erfüllen. Die Begegnung mit ausländischen Touristenkindern am Strand von Durrës, deren Nähe sich durch den Geruch von Sonnenmilch ankündigt. Die bruchstückhaften Einblicke in fremde Kulturen durch Fernsehsendungen wie den Eurovision Song Contest oder "Fremdsprachen zu Hause" oder auch nur durch die Lektüre von "Jim Knopf" und "Alice im Wunderland".
Im Jahr 1990 ändern sich nicht nur die politischen und die gesellschaftlichen Umstände für Ypi, nicht nur die Jobs der Eltern oder die Regierung, der Unterricht oder die Kleiderordnung, die zur Folge hatte, dass das gerade noch hart erarbeitete rote Pionierhalstuch nun nur noch als Putzlappen zu verwenden war. Für Ypi war das Vertrauen in sämtliche Wahrheiten erschüttert - und in die Menschen, von denen sie erwartet hätte, dass sie sie ihr zutrauen. "Die Wahrheit erfuhr ich, als sie mir nicht mehr gefährlich werden konnte, aber ich erfuhr sie auch in einem Alter, in dem ich mich fragen musste, warum meine Verwandten mich so lange belogen hatten", schreibt Ypi.
Die seltsamen Geheimnisse der Eltern, die über Freunde und Familienmitglieder so oft in rätselhaften Chiffren sprachen und alle Nachfragen nach Ungereimtheiten in deren persönlichen Schicksalen nur ausweichend mit ihrer "Biografie" begründeten, ergaben plötzlich Sinn; alles andere umso weniger. Alles löste sich auf, sogar das Vokabular, die Sprache, die doch so wichtig gewesen wäre, um wenigstens noch Begriffe dafür zu haben, was da überhaupt zu Ende ging: "Wir hatten keine Kategorien zur Beschreibung dessen, was geschah, keine Definitionen, die erfasst hätten, was wir verloren und stattdessen gewonnen hatten."
Die Zäsur des Jahres 1990 teilt auch Lea Ypis Buch in zwei Hälften. Was eben auch bedeutet, dass die Kapitel über das Aufwachsen in verblendeter Unschuld nur eine Hälfte der Geschichte sind, die sie in "Frei" erzählen will. "Erwachsenwerden am Ende der Geschichte" lautet der Untertitel ihres Buchs - und trotzdem fängt es eigentlich erst an, als ihre Kindheit so schlagartig endet. In der Zeit nach der politischen Wende muss Ypi nicht nur ihre Zukunft neu erfinden, sondern auch die Vergangenheit neu zusammensetzen: Sie erfährt, dass ihre Großmutter als Tochter eines Provinzgouverneurs im Osmanischen Reich zur Welt gekommen war und am Lycée Français in Thessaloniki unterrichtet wurde (und versteht nun, warum sie als Kind ständig Französisch mit ihr sprach); sie lernt, dass ihre Mutter aus einer Familie enteigneter Landbesitzer stammt, der einst das Gebäude gehört hatte, in dem nun die Parteizentrale untergebracht war, und dass ihr Großvater ein Muslim war. Und sie wird endlich aufgeklärt, dass "der andere Ypi", Xhafer Ypi, der ehemalige Ministerpräsident, der als Kollaborateur der italienischen Besetzer, als Vaterlandsverräter und Klassenfeind galt, nicht nur zufällig denselben Nachnamen wie sie trug, wie sie ihr Leben lang beteuert hatte; sondern ihr Urgroßvater war.
Doch auch die Zukunft, die nach 1990 dem ganzen Land verordnet wurde, brach schnell zusammen: Ein beispielloses Pyramidensystem hatte die halbe Bevölkerung erst in den Ruin und anschließend in den Bürgerkrieg getrieben. Der Weg, den die "Roadmap" des wirtschaftlichen Liberalismus vorgezeichnet hatte und dem das Land "mit quasireligiöser Überzeugung gefolgt" war, war plötzlich zu Ende. Und die, die es verlassen wollten, waren nun keine willkommenen Exilanten eines totalitären Systems mehr, sondern Kriminelle. Und mussten spüren, dass ihre Freiheit, die so lange von innen verwehrt wurde, nun an den Grenzen anderer Staaten endet.
So einzigartig diese Familiengeschichte ist, so ist sie doch mehr als das Gerüst eines abenteuerlichen Memoirs. Für Ypi sind all die Figuren ihres Buches auf eine ganz persönliche Weise die "Personifikation ökonomischer Kategorien", wie Marx im Vorwort zum "Kapital" schreibt, "Träger von bestimmten Klassenverhältnissen". Indem sie die Verhältnisse mit Leben füllt, gelingt ihr eine außergewöhnliche Beschreibung all jener theoretischen Konzepte von Freiheit, deren Behauptung und Scheitern für sie immer existenzielle Folgen hatten. Ypi begegnet ihnen in Gestalt der Mutter, die sich in der Demokratischen Partei den Idealen des Kapitalismus verschreibt, an die sie auch noch glaubt, als sie nach ihrer Flucht aus Albanien in Italien putzen gehen muss. In der des Vaters, der an eine Freiheit jenseits repressiver Staatsgewalt und der Zwänge des Marktes glaubt, die aber immer nur ein Ideal bleibt und der als Generaldirektor des Hafens von Durrës ökonomische Sicherheit erreicht und doch moralisch an den Strukturreformen zerbricht, die der Job von ihm verlangt. Und in der der Großmutter, die sich ihr ganzes Leben lang trotz aller Hindernisse als freier Mensch empfindet, als "Regisseurin ihres Lebens", die die Spielräume nutzt, die ihr eben zur Verfügung stehen.
Ypi selbst bleibt all diesen Freiheitskonzepten gegenüber eher skeptisch, den Versprechungen des Marktes ebenso wie den Utopien ihrer neuen linken Freunde, die so viel besser wissen, wie der wahre Sozialismus aussehen soll, und die von seinem Scheiterns so wenig hören wollen wie von den real existierenden Errungenschaften, die mit diesem untergegangen sind. Indem Ypi eine Sprache jenseits der Theorien findet, zeigt sie, dass sich Freiheit nicht in Ideen begreifen lässt, sondern, wenn überhaupt, nur in den Momenten ihrer Verwirklichung. Dass es nicht darum geht, ein Extrem durch ein anderes zu ersetzen, sondern die unterschiedlichen Vorstellungen miteinander zu versöhnen; dass man die Freiheit der Individuen, die viele so gerne in Gefahr wähnen, niemandem wegnimmt, wenn man Regeln formuliert, die sie allen ermöglichen soll.
Dass Ypi, ohne ihn zu verklären, mehr Sympathien für den Marxismus hat, als ihrer Familie lieb ist - auch das ist am Ende eine Form der Freiheit, eine Emanzipation von ihrer eigenen "Biografie", die ihr doch offenbar alles andere vorschreibt. Ihr Großvater "habe nicht fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen, damit ich Albanien verlasse und den Sozialismus verteidige", sagt ihr ihre Mutter einmal. Um ihr zu erklären, wie es trotzdem so kam, schreibt Ypi, "dazu würde es ein ganzes Buch brauchen". Und fügt hinzu: "Dies ist das Buch." HARALD STAUN
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