Dies ist die Geschichte eines Tierarztes und seiner 'Auserwählten' - der jungen Tochter eines Bauern, auf dessen Hof der Arzt von jeher die Kühe behandelt. Eines Sommers finden die beiden zueinander. Er will vor einem Trauma und seiner Einsamkeit fliehen, für sie ist es die Flucht aus der Provinz in eine aufregende Fantasiewelt. Bei ihm kann sie sein, wer und was sie will. Der Sommer schreitet voran, und die beiden entwickeln eine immer gefährlichere Faszination füreinander.
Mein kleines Prachttier erzählt von einem Mann, der einer fatalen Leidenschaft folgt, und einer jungen Frau, die Geborgenheit und einen Platz im Leben sucht. Es ist das Zeugnis einer Liebe von animalischer Wucht und moralischer Zweifelhaftigkeit.
Besprechung vom 17.03.2022
Bullen auf Ecstasy
Marieke Lucas Rijnevelds dramatischer Landroman
Die Rahmenhandlung ähnelt hier der von Nabokovs "Lolita": Ein neunundvierzigjähriger Tierarzt schreibt aus dem Gefängnis an seine vierzehnjährige Geliebte, erzählt ihr und uns die Geschichte der Leidenschaft, die ihn hinter Gitter brachte. Das Mädchen lebt mit Bruder und Vater auf einem Bauernhof; der Tierarzt, von dem Mädchen Kurt genannt, behandelt das Vieh auf dem Hof, dadurch kommt er in Kontakt zu ihr. Mit dem Romantitel "Mein kleines Prachttier" spielt die 1991 in Nordbrabant geborene Marieke Lucas Rijneveld auf die Tätigkeit des Veterinärmediziners an, aber auch schon auf das problematische Verhältnis zwischen ihm und dem Mädchen: Er sieht es als Tier, das zu seiner Arbeit gehört und von ihm behandelt wird. Das Buch ist ein langer Monolog, ausgehend vom Sommer 2005, in dem der Tierarzt minutiös seine Gefühle schildert, sich aber auch in das Mädchen hineinversetzt und dessen Motive, Träume und Gedanken darstellt.
Auch wenn der Protagonist den Text aus dem Gefängnis schreibt, ist er keinesfalls geläutert; jedem Satz merkt man an, dass er sich dem Mädchen weiter nahe fühlt. Seine Frau Camillia ist Lehrerin an der Schule des Mädchens. Sein älterer Sohn war mit ihr zusammen, hatte dann aber die Freundschaft beendet. Obwohl es sich um Prosa handelt, ist der Monolog musikalisch, klingt wie ein langes Lamento, durchsetzt mit Euphorie und Trauer, Hoffnungen und Verlustgefühlen. In der Übersetzung werden bei der Anrede in der zweiten Person Singular im Präteritum teilweise elliptische Formen verwendet, die ungewöhnlich klingen; für die rhythmische Unterstützung aber wäre das Perfekt manchmal geeigneter gewesen.
Die Prosa ist nicht frei von Peinlichkeiten, die Selbstentblößung des Tierarztes wirkt manchmal beschämend. Es wirkt, als wollte er seine eigene Pubertät nachholen, als wäre er in seiner Entwicklung zurückgeblieben, renne einer ungelebten Existenz hinterher. Erträglich wird der Monolog durch die poetische Sprache, die Unmittelbarkeit in der Darstellung der Emotionen, die Metaphern und Vergleiche aus der Tier- und Pflanzenwelt.
Der Skandal fliegt auf, als der Bruder des Mädchens dessen Tagebücher liest. In dem Roman geht es um die erwachende Sexualität des Mädchens, es wird eine Person zwischen den Geschlechtern gezeigt, zwischen Kindheit und Pubertät. Diese Phase des Übergangs macht für den Tierarzt den Reiz aus. Er sieht sich in der Position eines Mentors und Geliebten, der Orientierung und Liebe geben kann, gleichzeitig wirkt er bedürftig, abhängig von ihrer Zuneigung. Zentral ist dabei die Frage nach der Identität, auch des eigenen Geschlechts. Das Buch ist gespickt mit phallischen Bezügen, in einer Szene wird ein toter Otter seziert, das Mädchen nimmt den abgetrennten Penis mit nach Hause. Die Anspielungen aufs männliche Glied haben aber nicht nur einen erotischen Hintergrund, sondern deuten vielmehr auf die für das Mädchen offene Frage nach dem eigenen Geschlecht hin. Will sie lieber ein Junge sein? Marieke Lucas Rijneveld selbst definiert sich als beiden Geschlechtern zugehörige Person.
Die fehlgeleiteten erotischen Energien des Tierarztes hängen mit traumatischen Erfahrungen zusammen, zum Beispiel im bedrückenden Verhältnis zu seiner religiösen Mutter. Auch schildert er, wie er einen Landwirt vorfand, der sich erhängt hatte. "Mein kleines Prachttier" ist reich an Hinweisen auf Bücher, auf Autoren, auf Musiker und Liedtexte. Der Tierarzt hat seinen Vornamen in Anspielung auf Kurt Cobain; Leonard Cohen wird genannt, Samuel Beckett, Roald Dahl und sogar Harry Potter tauchen auf.
Der Protagonist begibt sich in die Gedankenwelt des Mädchens, in der es unter anderem um Hitler und Freud geht, auch um den 11. September 2001. Die Vierzehnjährige entwickelt die Vorstellung, sie wäre bei den Anschlägen dabeigewesen. "Mein Augenstern, je höher in deinem Kopf die Flammen an den Twin Towers loderten, umso feuriger wurde meine Liebe zu dir und umso schwächer mein Fleisch, ach, es war so schwach und weich, nicht mehr als dreihundert Gramm geschmorte Hochrippe", heißt es. Doch das wahre Leben spielt hier auf dem Bauernhof, ähnlich wie in Gerbrand Bakkers Roman "Oben ist es still". Einerseits möchte das Mädchen das Dorf, genannt "The Village", verlassen, andererseits hängt sie am Leben in der Natur und an ihrem Vater. Als der sich beruflich in Frankreich aufhält, kommt es zu einem Unfall. Der Bruder und seine Freunde geben bei einer Party einem Bullen eine Ecstasy-Tablette, das Tier wird wild und tötet einen Jungen. Es erwächst nicht Gutes aus Rausch in diesem Buch. THOMAS COMBRINK
Marieke Lucas Rijneveld: "Mein kleines Prachttier". Roman.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 364 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.