Besprechung vom 09.01.2022
Wahlkampf am Abgrund
Michel Houellebecq hat einen Politthriller geschrieben. Sein letztes Werk?
Michel Houellebecq hat in seinem neuen Roman eine Bombe versteckt. Sie trifft nicht die Frauen, nicht die Religion und auch nicht die Politik, obwohl "Vernichten", wie das Buch heißt, sehr wohl ein politischer Roman ist, eine Erzählung, die über weite Strecken im französischen Wirtschaftsministerium spielt, während des Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2027. Die Bombe am Ende des Buches, im letzten Satz der Danksagung des Schriftstellers, trifft vielmehr ihn selbst: "Ich", schreibt Michel Houellebecq, "bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt: für mich ist es Zeit aufzuhören."
Er will aufhören? Jetzt? Warum? Gerade ist man durch die 620 neuen Seiten hindurchgeflogen, in enormem Tempo deshalb, weil "Vernichten" mit einer rätselhaften geometrischen Zeichnung, mit unbekannten Schriftzeichen als Spionagethriller beginnt, dessen mögliche Auflösung einen, selbst als alles schon hoffnungslos erscheint, weiter vorantreibt - da soll es zu Ende sein? Zu Ende auch mit dieser Sprache, der manche vorwerfen, dass sie "ohne Stil" sei, obwohl ja "die Abwesenheit von Stil, der Nicht-Stil", wie der Schriftsteller Rainald Goetz das genannt hat, Houellebecqs eigentliches Stilphänomen ist? Einmal abgesehen davon, wie extrem gut sich diese stillose Sprache liest.
Wie immer bei Houellebecq weiß man nicht, wie ernst seine Selbstinszenierung gemeint ist. Das ist sein Spiel. Er schafft es allerdings, mit der Ankündigung seiner Abdankung ein Gefühl der Trauer zu verstärken, das einen während "Vernichten" die ganze Zeit schon begleitet hat. Denn tatsächlich handelt der Roman von einer Abschiedstournee: dem Abschied von der Welt der Politik, von der Arbeit, der Familie - allein die Liebe bleibt.
Aber von vorn: Es beginnt damit, dass im Internet verschlüsselte anonyme Botschaften auftauchen, geometrische Figuren auf gehackten kommerziellen und behördlichen Websites, mit denen sich, wenn man sie anklickt, Videos starten lassen. Diese Videos fallen deshalb auf, weil sie digitale Spezialeffekte realisieren, die von den besten Spezialisten auf dem Gebiet für unmöglich gehalten werden; weil die Rechenleistung, die sie aufbringen, alles bisher Bekannte übersteigt - und weil sie einen Angriff von Unbekannten auf Bekannte inszenieren: Im zweiten Video steht der Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Juge mit hinter dem Rücken gefesselten Händen in einem Garten.
Eine Einstellung weiter ist er in ein langes schwarzes Gewand gekleidet, mit einer Kapuze über dem Kopf, und wird zu einer Guillotine geführt, die ihn köpft. Wobei sein Kopf daraufhin einen Grashügel hinunterrollt und direkt vor der Kamera liegen bleibt. Diejenigen, die es sehen, könnten schwören, einer tatsächlichen Enthauptung beigewohnt zu haben. Es folgt im Roman auf einer ganzen Seite: die Zeichnung einer Guillotine mit den Fachbegriffen ihrer Einzelteile.
Zur gleichen Zeit befindet sich der lebende Bruno Juge in seiner Dienstwohnung im Wirtschafts- und Finanzministerium, nach dem Pariser Viertel Bercy benannt, in die er dauerhaft eingezogen ist, seitdem seine Frau ihn betrügt. Im Pyjama trifft er auf einem der Korridore auf seinen Berater und Freund Paul Raison, der - es ist spätnachts - gerade das Büro verlassen will, und lädt ihn ein, in der Dienstwohnung noch etwas mit ihm zu trinken. Raison ist der Sohn eines ehemaligen Geheimdienstagenten. Für Houellebecq ist es diese Verwandtschaftsbeziehung, die den Link zwischen Thriller und Politroman herstellt und es ihm erlaubt, von einem zum anderen Genre zu wechseln - bevor die Erzählung ganz ins Private abdriftet.
Im Netz tauchen weitere Videos auf: ein Containerschiff aus Schanghai wird in zwei Hälften gerissen - nur handelt es sich hier nicht mehr um Trickaufnahmen, sondern um einen tatsächlichen Anschlag auf ein Welthandelsziel, dem eine ganze Anschlagsserie folgt. Immer anonym. Paul Raison ist in die Aufklärung involviert, während er Bruno Juge gleichzeitig im Präsidentschaftswahlkampf begleitet. Zwar wird Juge, obwohl es kurz so aussieht, nicht selbst als Kandidat für das Präsidentenamt nominiert, sondern ein volksnaher ehemaliger Fernsehmoderator. Er ist aber kurzzeitig als Premierminister vorgesehen - bis zu einer Verfassungsänderung, die den Premierminister abschaffen und ein präsidentielles Regierungssystem einführen soll: "Es hat etwas Postdemokratisches, wenn du so willst", erklärt Bruno seinem Freund. "Aber das machen jetzt alle so, anders funktioniert es nicht mehr, die Demokratie als System ist tot, ist zu langsam, zu schwerfällig." So gehen die terroristischen Anschläge in "Vernichten" mit der Vernichtung der Demokratie einher.
Die Anspielungen auf das politische Leben im Frankreich der Gegenwart sind dabei aufdringlich unsubtil. Unübersehbar trägt Bruno Züge des amtierenden französischen Wirtschaftsministers Bruno Le Maire. Erst vor einigen Tagen berichtete der "Figaro", dass Michel Houellebecq im Juli 2019 im Ministerium beim Frühstück gesehen worden sei. Er habe zuvor angerufen und darum gebeten, das Gebäude und die dortigen Büros sehen zu dürfen, und sei nicht enttäuscht worden. Was auch deshalb nicht verwundert, weil der Schriftsteller und Le Maire sich seit 2005 kennen.
Houellebecq lebte in Irland, als damals sein Hund starb. Le Maire ermöglichte es ihm, die sterblichen Überreste nach Frankreich zurückzuführen und den Hund dort zu beerdigen, so der "Figaro". Seitdem schreiben sich der Schriftsteller und der Politiker regelmäßig, den es alles andere als zu stören scheint, mit dem aktuellen literarischen Großereignis assoziiert zu werden.
Der Wirtschaftsminister kommt, als Hochbegabter und begnadeter Redner, im Roman ja auch nicht zu schlecht weg. Anders als der zu Beginn noch amtierende Präsident der Republik, der in "Vernichten" ohne Namen bleibt und Macron in vielem doch ähnelt: "Dieser hatte im Grunde die Träume von einer start-up nation aufgegeben, die seine erste Wahl ermöglicht, objektiv jedoch zur Schaffung einiger prekärer und unterbezahlter, an Sklaverei grenzender Arbeitsstellen in unbeherrschbaren multinationalen Konzernen geführt hatten", heißt es im Roman. "Im Grunde", sagt Bruno schließlich zu Paul, "hat der Präsident eine, genauer gesagt eine einzige politische Überzeugung", die sich in einem einzigen Satz zusammenfassen lasse: "Ich bin dafür gemacht, Präsident der Republik zu sein." In Bezug auf alles andere, die zu treffenden Entscheidungen, die Ausrichtung des staatlichen Handelns, sei er zu fast allem bereit, solange er das Gefühl habe, dass es in Richtung seiner politischen Interessen gehe.
Als Pauls Vater einen Hirnschlag erleidet und im Koma liegt, in einem schwer zu erreichenden Weiler im Beaujolais, fünfzig Kilometer nördlich von Lyon, fährt der Sohn zu ihm - und bleibt damit auf den Spuren der Aufklärung der terroristischen Anschläge: Inzwischen ist ein Boot mit Geflüchteten zwischen Ibiza und Formentera versenkt und sind die Ertrinkenden von einem anderen Schiff aus gefilmt worden. Sein Vater, stellt Paul fest, musste in seiner Zeit beim Geheimdienst eine weit größere Nummer gewesen sein, als er je vermutet hätte.
Mit der Reise aufs Land und den immer ausgedehnteren Aufenthalten dort dringt Houellebecq dabei in jene Welt der Provinz vor, die mit der Großstadt und ihren Bewohnern kaum noch etwas gemein zu haben scheint. Während in Paris die Wahlkampfmanagerin mit dem lustigen Namen Solène Signal erläutert, dass "die Kluft zwischen den herrschenden Klassen und der gewöhnlichen Bevölkerung so groß wie nie zuvor" sei und "der Rassenhass ein nie gekanntes Ausmaß erreicht" habe, durchgeistern die Ängste der Provinz mehr und mehr auch Pauls nächtliche Träume. Sein Schwager, ein Notar, gehört dem Identitären Block an; seine Schwester wählt mit großer Überzeugung und noch größerer Selbstverständlichkeit Marine Le Pen, sein labiler jüngerer Bruder, ein Restaurateur für Wandteppiche, führt eine völlig zerrüttete Ehe. Um eine Familienangelegenheit zu regeln, hat auch Paul nichts dagegen, ein Kommando alter Identitärer anzuheuern.
Und auch wenn es kurz so aussieht, dass diese Familie, die hier auf dem Land zusammenkommt, um sich um den kranken Vater zu kümmern, einen letzten Zusammenhalt bilden könnte, ist die Auflösung längst im Gange - alle haben ihren Anteil am "Vernichten".
Allein die Beziehung zu Prudence, Pauls Ehefrau, ist von dieser Dynamik ausgenommen, was vor allem daher rührt, dass ihre Ehe zu Beginn des Romans bereits verloren scheint, es also schlimmer kaum noch werden kann: Schon lange haben sie ihre Wohnung in zwei Teile geteilt, auch die Kühlschrankfächer, haben unterschiedliche Bäder und sehen sich kaum noch, führen, obwohl in einer Wohnung, zwei völlig getrennte Leben, wobei Prudence nicht nur Veganerin geworden ist, sondern sich auch einer Naturreligion zugewandt hat.
Angesichts der Sterblichkeit des Vaters und Schwiegervaters verbessert sich das Verhältnis der beiden jedoch. Eine Annäherung findet statt, eine Liebe, die für Houellebecq ungewöhnlich nur deshalb ist, weil die Frau, die Paul jetzt wieder begehrt und liebt, ausnahmsweise im mittleren Alter ist. Das hat es in seinem Werk so noch nicht gegeben (ein Escort-Girl kommt natürlich auch vor, nur währt der Spaß nicht lange, weil sie sich, das kann sich der Schriftsteller nicht verkneifen, als die Tochter von Pauls Schwester herausstellt).
Den Romantiker Michel Houellebecq gibt es seit jeher: "Und die Liebe, die alles so leicht macht, / Dir alles schenkt, und zwar sogleich; / Es gibt, in der Mitte der Zeit / Die Möglichkeit einer Insel" heißen jene Gedichtzeilen, die man im Band "Gestalt des letzten Ufers" und in seinem Roman "Die Möglichkeit einer Insel" findet. Sie bringen die Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen zum Ausdruck, eben das, was Houellebecq zum Romantiker und nicht zum Zyniker macht. Doch macht das "Vernichten" auch vor der Liebe nicht halt.
Michel Houellebecqs düstere Vision beschreibt - in einer irrwitzigen Tour de Force der Gegenwartsbezüge, oft ironisch, unterhaltsam und heillos abgründig - den immer enger werdenden Radius eines Menschen, der zunächst in Gesellschaft und Politik keinen Halt mehr findet, nicht in der Familie und dem zuletzt auch die Liebe abhandenzukommen droht. Manchmal verliert er dabei selbst den Halt und lässt angefangene Erzählstränge einfach liegen, was einen fast wütend macht, was aber zur Engführung des Radius dazugehört: Die Welt wird immer kleiner. Letztes Rückzugsgebiet ist der eigene kranke Körper. Da reicht die Kraft nicht mehr für die Zusammenführung der losen Enden.
"Vernichten" erinnert uns daran, dass wir, wo es uns möglich ist, mit dem Vernichten aufhören könnten. Nur er, Michel Houellebecq, soll bitte nicht aufhören zu schreiben. Aber vielleicht war das mit dem Aufhören ja auch gar keine Bombe, sondern nur einer seiner Scherze.
JULIA ENCKE.
Michel Houellebecq: "Vernichten". Roman. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek, Dumont Verlag, 624 Seiten, 28 Euro (erscheint am 11. Januar).
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