Besprechung vom 01.04.2021
Hautfarbe? Die kann sie ändern
Mithu Sanyals Roman "Identitti" erzählt von einer Professorin, die sich auf ihren Posten manipuliert hat
"Identitätskämpfe sind Kämpfe um Fiktionen in der Wirklichkeit", erklärt Mithu Sanyal im Nachwort zu ihrem Romandebüt mit dem programmatischen Titel "Identitti". So nennt sich die weibliche Hauptfigur des Romans, wenn sie auf den einschlägigen Internetplattformen in Sachen Sexismus und Rassismus bloggt und tweetet. Nivedita, Tochter einer Deutschen und eines Inders, ist junge Feministin mit Race-Sex-Gender-Theoriegepäck. Und das hat sie sich draufgeschafft in den Seminaren einer charismatischen Professorin für Postkoloniale Theorie an der Universität Düsseldorf. Die Lehrstuhlinhaberin mit schicker Dachgeschosswohnung in Düsseldorf-Oberbilk nennt sich leicht prätentiös nach der hinduistischen Göttin der Gelehrsamkeit: Saraswati.
Als Professorin, die sich den People of Colour (PoC) zugehörig fühlt, ist Saraswati ein Stachel im weißen Fleisch der deutschen Universität. Das macht die Autorin des fiktiven Standardwerks "Decolonize your Soul" zu einer glaubhaften Vertreterin der Erfahrungen einer Gruppe von Menschen, die hierzulande vor ähnlichen Zugehörigkeitsproblemen steht wie in anderen Ländern mit kolonialer Vergangenheit.
Saraswati setzt aus pädagogischer Überzeugung in ihren Lehrveranstaltungen auf Drastik. Sie eröffnet sie gerne mit einer Provokation. Indem sie zum Beispiel alle weißen Studenten dazu auffordert, den Vorlesungssaal wieder zu verlassen. Nachher bestellt sie die Düpierten in ihre Sprechstunde ein, um zu erörtern, welche Gefühle, Motive und Mechanismen in den jeweiligen Akteuren am Werk sind. Saraswati ist damit eine Art Performance-Intellektuelle, die den Identitätshaushalt ihrer Studierenden gehörig durcheinanderbringt. Oder eben im Falle ihrer Lieblingsstudentin Nivedita zum ersten Mal so etwas wie eine gefestigte Identität überhaupt ermöglicht.
Während ihrer Arbeit an "Identitti" hätten sich die Anschläge von Hanau ereignet, schreibt Mithu Sanyal im Nachwort ihres Romans. Sie kommen im Buch ebenso vor wie diverse lebende Personen der Zeitgeschichte von Donald Trump über den Philosophen Kwame Anthony Appiah bis zum Radiojournalisten René Aguigah: als Menschen, die sie mit realen Äußerungen zu Rassismusfragen in die erfundenen Kontexte ihres Romans einwebt. Eine Methode, die angenehm unbefangen auf der Grenze zwischen Fakt und Fiktion eine wahrerfundene Geschichte erzählt.
Der Alltag in Deutschland bestehe natürlich nicht aus schrecklichen Gewaltverbrechen, schreibt die Autorin, aber schreckliche Verbrechen wie der Anschlag von Hanau sind Teil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. "Deshalb ist das Schweigen darüber in der deutschsprachigen Literatur eine nicht akzeptable Leerstelle."
Es ist eine engagierte Literatur, die sich hier anschickt, diese Leerstelle zu füllen. Mithu Sanyal, die bislang vor allem als Sachbuchautorin über die Vulva und über die Diskursgeschichte der Vergewaltigung von sich reden machte, hat ein ganz eigenes Genre für ihr Anliegen gefunden: eine Mischung aus Campusroman, intellektuellem Kammerspiel, Blogosphärenplateau und Identitätspolitiksatire. Auf jeder Seite kann man mindestens dreimal laut lachen. Denn Sanyal hat ein unerhörtes Talent, sowohl die Freiheiten des auf die Spitze getriebenen Denkens als auch die Grenzen des Diskurses aufzuzeigen. Reden jedenfalls können alle Figuren, die diesen Roman bewohnen, ziemlich gut. Mitunter reden sie sich um Kopf und Kragen und stellen die Wahrheit von den Füßen auf den Kopf. Aber immer reden sie so, dass es dabei lustig knallt.
Allen voran Saraswati. Mithu Sanyal zeichnet das Bild einer spektakulär verführerischen Lichtgestalt, die nicht mal über ihren eigenen Lebensskandal wirklich zu Fall zu bringen ist. Nachdem sie ihre Studenten als Person of Colour zu einer identitätspolitischen Spürtruppe aufgepäppelt hat und besonders für Nivedita eine herausragende Identifikationsfigur geworden ist, erschüttert eine Enthüllung die akademische Welt. Irgendjemand hat Fotos von Saraswati geleakt. Darauf ist eine sehr deutsch aussehende junge Frau mit heller Haut zu sehen. Sie heißt Sarah Vera Thielmann, hat deutsche Eltern und einen indischstämmigen Adoptivbruder, der sich immer zurückgesetzt gefühlt hat und sich nun im Verbund mit Niveditas kesser Cousine Priti für den Skandal um die geblackfacete Schwester verantwortlich zeichnet.
Mithu Sanyal hat den realen Fall der amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal, die sich als Schwarze ausgab, an eine deutsche Universität übertragen. Debunking Saraswati ist das Thema ihres Romans. Die Mehrheit der Studierenden fühlt sich massiv verraten. Die PoC-Community schäumt vor Wut. Die Universität denkt über die Suspendierung von Saraswatis Arbeitsvertrag nach. Eigentlich möchte man nur noch im Erdboden versinken. Doch Saraswati wäre nicht Saraswati, wenn sie es nicht auch noch verstünde, ihre gefakte Authentizität zum Teil des Lehrplans zu machen. Sanyal inszeniert hierfür eine Mischung aus Tribunal und Symposion in der professoralen Dachgeschosswohnung, wohin sich auch Nivedita, Priti sowie Saraswatis Liebhaberin, eine albinohafte Erscheinung, begeben, um Antworten zu erhalten. Was schwer genug ist, denn ",du weißt, dass es ganz schön rassistisch von dir ist, dass meine Hautfarbe einen Unterschied für dich macht', sagte Saraswati genüsslich".
Als dann der mephistophelische Bruder Saraswatis auftaucht und von einem Sitzsack aus giftige Kommentare in den Raum sprüht, liefert Mithu Sanyal ihren Lesern einen Rhetorikporno. Familienabgründe werden offengelegt und ad absurdum geführt. Täter- und Opferrollen wechseln munter ihren Wirt. Essentialistische Diskussionen über Authentizität, Blackness, Whiteness und andere binäre Zumutungen versanden in der Dauerdekonstruktion, die vor allem Saraswati perfektioniert hat. So jemanden bekommt man nie zu greifen. "Sobald etwas eindeutig oder offensichtlich erscheint, wissen wir, dass wir uns im Bereich der Ideologie befinden." Wie soll man mit so jemandem streiten?
So geht es dahin in diesem Aufschlagspiel, bei dem der Identitätsbegriff am Ende vollends verwischt. Gleiches gilt für pragmatische Institutionen wie "die Wahrheit", "das Reale" oder "Authentizität". "Saraswati sagte: ,Ah!', aber nicht Ah wie in Ah, da hast du mich erwischt, sondern eher Ah wie in: Ah, ich habe einen Fehler in deiner Argumentation entdeckt. ,Ganz im Gegenteil! Ich sehe Hautfarbe so klar, dass ich sie sogar ändern kann. Was ich tue, ist . . . racial drag.'" Saraswati, die viel für die PoC in Deutschland getan hat, will ihr Transracial-Experiment nicht als kulturelle "appropriation" verstanden wissen, sondern als "appreciation". Ist das genial oder einfach nur dreist?
Der Roman ist klug genug, diese Frage nicht zu beantworten, aber wie er sie zur Disposition stellt, ist schon die halbe Miete. Indem man über seine eigenen Kategorien nachdenkt, bringt man sie ins Wanken. Mit "Identitti" hat Mithu Sanyal eines der originellsten Bücher dieses Frühjahrs geschrieben. Leider hat es Längen, die von einem entschlosseneren Lektorat leicht hätten vermieden werden können. So bleibt ein Buch, in dem unglaublich viel und pointiert geredet wird und in dem alles endlos gedreht und gewendet wird - analytische Therapiesitzung als Perpetuum mobile.
KATHARINA TEUTSCH
Mithu Sanyal: "Identitti". Roman.
Hanser Verlag, München 2021. 432 S., geb., 22,- [Euro].
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