Das Pendant zum Bestseller «Sie kam aus Mariupol» - ein Frauenschicksal jetzt und hier.
Als Natascha Wodin 1992 nach Berlin kommt, sucht sie jemanden, der ihr beim Putzen hilft. Sie gibt eine Annonce auf, und am Ende fällt die Wahl auf eine Frau aus der Ukraine, dem Herkunftsland ihrer Mutter, die im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt wurde. Nastja, eine Tiefbauingenieurin, konnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im wirtschaftlichen Chaos ihrer Heimat nicht mehr überleben - ihr letztes Gehalt bekam sie in Form eines Säckchens Reis ausgezahlt. Da sie ihren kleinen Enkelsohn und sich selbst nicht länger ernähren kann, steigt sie, auf etwas Einkommen hoffend, in einen Zug von Kiew nach Berlin. Dort gelingt es ihr, mehrere Putzjobs zu finden, nach getaner Arbeit schläft sie auf dem Sofa ihrer Schwester. Zu spät bemerkt sie, dass ihr Touristenvisum abgelaufen ist. Unversehens schlittert sie in das Leben einer Illegalen, wird Teil der riesigen Dunkelziffer an Untergetauchten im Dickicht der neuen, noch wildwüchsigen deutschen Hauptstadt.
Für Natascha Wodin ist es, als würde sie von ihrem Schicksal erneut eingeholt. Im Heimweh dieser Ukrainerin, mit der sie mehr und mehr eine Freundschaft verbindet, erkennt sie das Heimweh ihrer Mutter wieder, die daran früh zerbrochen ist. Jetzt, Jahre später, zeichnet sie mit verhaltener, tief anrührender Poesie das Porträt von Nastja, einer kämpferischen Frau.
«Große, bemerkenswerte Literatur von einer beeindruckenden sprachlichen Kraft.» Bayerischer Rundfunk
Besprechung vom 28.08.2021
Plötzlich illegal
Natascha Wodin zählt "Nastjas Tränen"
Es sollte ein besonderer Abend werden, der Auftakt zu einer neuen und intensiveren Phase in der erprobten Freundschaft zwischen zwei Frauen mittleren Alters. Die eine, die Ukrainerin Nastja, hatte bei der anderen, der ukrainischstämmigen deutschen Erzählerin des Romans, schon einige Zeit geputzt. Nun hatte Nastja nach dem Tod ihres deutschen Mannes die Berliner Wohnung verloren, und ihre alleinstehende Freundin, die sie schon zuvor bei Behördengängen und anderem unterstützt hatte, war auf den Gedanken gekommen, Nastja ein Zimmer ihrer Behausung anzubieten, schließlich war die zierliche Ukrainerin "alles andere als ein raumgreifender Mensch".
Doch der Einzugsabend endet beinahe im Fiasko. Das "typisch deutsche Essen", Rindsrouladen mit Rotkohl und Klößen, das die Erzählerin nicht ohne Hintergedanken gekocht hat - "ich wollte ihr eine Freude machen und sie zugleich auf das deutsch-ukrainische Leben einstimmen, das wir von nun an miteinander führen würden" -, findet bei Nastja nicht den erhofften Anklang. Im Gegenteil: "Das schmeckt mir nicht", sagt sie. Und zwar "in einem kalten, abweisenden Ton, den ich noch nie von ihr gehört hatte".
Es gibt wesentlich turbulentere Situationen in Natascha Wodins Roman "Nastjas Tränen", der soeben erschienen ist, erzählte Zeiten, die geprägt sind von Armut und Hunger, Verrat, Demütigung und Verzweiflung, auch von Trotz und Gegenwehr. Bei ihrer Ankunft in Deutschland bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blickt sie auf eine gescheiterte Ehe zurück und auf eine qualvolle Zeit in der vom kalten Wind des Kapitalismus durchgeschüttelten Ukraine. In Deutschland wagt sie kaum, zu ihren Putzstellen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, weil sie in jeder Fahrkartenkontrolle auch die ihres Aufenthaltsstatus vermutet und eine Abschiebung in die Ukraine befürchtet. Und auch die Ehe mit dem abgründigen Deutschen Achim, geschlossen, um in Berlin bleiben zu dürfen, erweist sich aufgrund des labilen Charakters dieses Ehemannes als desaströs.
Und trotzdem steht dieser unspektakuläre Moment des Abendessens unübersehbar im Zentrum der Geschichte. Woher kommt plötzlich dieser "abweisende Ton" Nastjas, was lässt die Frau, die so viel klaglos ertragen hat, plötzlich so aggressiv werden? Was genau schmeckt ihr nicht?
Natascha Wodin, die für den ihrer ukrainischen Mutter gewidmeten Roman "Sie kam aus Mariupol" (F.A.Z. vom 18. März 2017) zu Recht gefeiert worden ist, erzählt von jener Nastja, indem sie sich auf das stützt, was sie von ihrer Freundin selbst gehört hat, und auf ihre Erlebnisse mit der Frau, die in ihrem Willen, das eigene Leben in Berlin zu meistern und außerdem noch ihre halbe Familie in der Ukraine zu unterstützen, eine immer wieder aufscheinende Härte entwickeln muss. Neben diesem Bericht aber steht ein anderer, der die Erzählerin selbst betrifft. Sie beobachtet und befragt ihr eigenes Verhalten Nastja gegenüber ebenso diskret wie unabweisbar, so dass es auch für die Leser nicht schwer ist, Parallelen zwischen den Lebensläufen zu ziehen und, mehr noch, die Projektionen zu erkennen, die von der Seite der Erzählerin auf Nastja gerichtet werden: Was erhofft sie sich von der Freundschaft zu einer Frau, die so unangreifbar erscheint und in Tränen ausbricht, als sie Schellackplatten mit ukrainischer Musik hört?
"Ich wollte nichts mehr zu tun haben mit dem Osten, der mich kraft meiner Geburt seit jeher verfolgte", sagt die Erzählerin einmal. Und malt sich zugleich aus, mit Nastja ein "deutsch-ukrainisches Leben" zu führen, in der Wohnung einen "west-östlichen Divan" zu etablieren, so wie es mit einer anderen Berliner Freundin gelingt, der lebhaften Russin Lena. Die Widersprüche, die sie in Nastjas Verhalten zu spüren bekommt, sind auch ihr selbst nicht fremd, so viel ahnt man. Mit sicherem Gespür für literarische Erfordernisse belässt es der Roman dabei und verzichtet darauf, Nastjas Beweggründe weiter auszuleuchten. Bis hin zur bitteren Pointe, dass Nastja am Ende in der Ukraine als Witwe eines Deutschen kein Aufenthaltsrecht mehr hat. TILMAN SPRECKELSEN
Natascha Wodin: "Nastjas Tränen". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 176 S., geb.
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