Besprechung vom 07.08.2023
Kein Motiv am Grund des Brunnens
Kaltblütig: Nicola Lagioias verstörender Genremix "Die Stadt der Lebenden" folgt einem Mord, der Italien erschütterte.
Im März 2016 begehen zwei Römer, die man getrost als ziemlich durchschnittlich bezeichnen kann, einen ganz und gar nicht durchschnittlichen Mord. Marco Prato, schwuler PR-Manager, bestens vernetzt in der queeren Partyszene, und Manuel Foffo, Sohn eines Restaurantunternehmers, Langzeitstudent mit vagen Start-up-Plänen. Das Opfer: der dreiundzwanzigjährige Luca Varani, Sohn fahrender Händler, ein Schulabbrecher vom Stadtrand, der sich gelegentlich prostituiert, um das mickrige Gehalt eines Autoschraubers aufzubessern.
Verbindungen zwischen dem ungleichen Trio sind kaum existent, bis zu dem Morgen, an dem Carabinieri auf Foffos Selbstanzeige hin die übel zugerichtete Leiche in einer Wohnung im römischen Stadtteil Collatino finden, am Körper die Spuren einer deliranten Koksnacht und quälender Folter mit Messerstichen und Hammerschlägen. Der Mord beschäftigt die Medien italienweit und darüber hinaus, nicht nur wegen seiner Brutalität, sondern auch, weil es schlicht kein plausibles Motiv gibt. Selbst die Angeklagten scheinen darum zu flehen, die Ermittler mögen ihnen bitte eine Erklärung für ihr Tun liefern: "Diesmal war es nicht die Justiz, die sich bemühte, Licht in die finsteren Winkel der menschlichen Natur zu bringen; es war der Grund des Brunnens, der hier nach oben drängte und sich denen offenbarte, die sich darüber beugten."
Nicola Lagioia beugt sich tief über den Brunnen, mit der Angst, zu fallen, präsent im Hinterkopf. Der mit dem höchsten italienischen Literaturpreis Premio Strega ausgezeichnete Autor ("Eiskalter Süden") erhält 2016 den Auftrag, eine Zeitungsreportage über den Fall zu schreiben, lehnt zunächst ab und kann sich schließlich doch nicht der düsteren Faszination erwehren. "Die Stadt der Lebenden" ist das Ergebnis seines Eintauchens in Vernehmungsprotokolle, Prozess- und Krankenakten, psychologische Gutachten, vielstimmige und oftmals widersprüchliche Zeugenaussagen; ein Konvolut aus zwischen Reportage und Fiktion pendelnden Passagen und persönlichen Reflexionen, die ihm Vergleiche mit Truman Capotes "Kaltblütig" einbrachten und am Ende unaufhaltsam, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen, auf den Grund des Brunnens zustrudeln, zur unsäglichen Mordnacht. Die Stadt werde in einer Geschichte selbst zur Protagonistin, das liest man häufig, aber Rom ist in "Die Stadt der Lebenden" eindeutig mehr als das, nämlich das alles übergreifende und ermöglichende Grundprinzip. Lagioia weicht mehrfach von der Chronologie der Ereignisse ab, um ihre Dysfunktionalität in atmosphärischen Exkursen zu beschreiben, die Aura der Sterblichkeit, Rattenplagen und mangelhafter Müllentsorgung, wie ein bisschen Regen es vermag, das öffentliche Leben lahmzulegen, und die Menschen zynisch darüber werden, dass die ewige Stadt Anfang 2016 zwar zwei Päpste hat, aber keinen Bürgermeister.
Als wären die Einwohner Roms inklusive des Autors selbst kollektive Opfer einer mysteriösen Variante des Stockholm-Syndroms. Wenn sich "Die Stadt der Lebenden" also wie ein Roman liest, dann, weil Lagioia sich erfolgreich darauf versteht, all die wahnsinnigen Fragmente des Falls und der Höllenkreise, in denen er sich abspielt, sinnvoll anzuordnen; ein Narrativ zu finden als einzige Möglichkeit, um des Chaos in der Welt Herr zu werden. Über den Weg des Schreibens nähert er sich der Wahrheit über den Mord an Luca Varani an, so nah es eben geht. Exzessiver Kokainkonsum spielt dabei eine zentrale Rolle, aber auch sexuelle Frustration - für Manuel Foffo sei es leichter, sich einen Mord einzugestehen als eine mögliche Homosexualität, analysiert sein Mittäter. Dazu kommen soziale Faktoren, die finanzielle Unterlegenheit des Opfers, das grausame Vergnügen, einen Schwächeren zu erniedrigen. Irgendwann fällt dabei der Begriff der psychischen Ansteckung, ein noch nicht abschließend erforschtes Phänomen der Gefühlsimitation, mit dem schon Kleinkinder soziales Verhalten lernen und das massenpsychologische Dynamiken erklären kann. Es hilft zu verstehen, wie sich Prato, wohl ein gewiefter Manipulator, und Foffo, eher der Typ Befehlsempfänger, gegenseitig in ihren Rausch hineingesteigert haben mögen.
Ganz ähnlich funktioniert auch die Lektüre von "Die Stadt der Lebenden". Man wird mit dem Umblättern der letzten Seite den Fall nicht grundlegender durchdrungen haben als die Experten, die sich seit Jahren mit ihm befassen. Aber beim Lesen flammen beunruhigend in einer tiefen Bauchgegend sich bemerkbar machende Momente der Empathie sogar mit den Tätern auf, glimmen flüchtige Funken einer größeren Erkenntnis, eines intuitiven Verständnisses für die Zusammenhänge. KATRIN DOERKSEN
Nicola Lagioia: "Die Stadt der Lebenden.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
btb Verlag, München 2023. 516 S., geb.
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