Besprechung vom 22.11.2024
Spaßbad? Keinesfalls!
Olaf Kanter segelt über die Ostsee
Zum Schluss kommen die Funfacts. Die Fläche der Ostsee? 412.560 Quadratkilometer. Die Tiefe im Schnitt? 52 Meter. Die maximale Breite? 300 Kilometer. Der westlichste Punkt? Flensburg. Der östlichste Punkt? Sankt Petersburg. Dem Partywissen vorangestellt ist eine Mischung aus kursiv gesetztem Erlebnisbericht und historischen, kulturellen, geologischen sowie meteorologischen Informationen, die, wenn nicht alles täuscht, auch ganz anders hätten ausfallen können. Thomas Mann und Caspar David Friedrich haben ihre Auftritte, Philipp Otto Runge fehlt. Der Schweinswal taucht auf, nicht aber Seehund und Kegelrobbe. Martin Kriegers Ostsee-Monographie findet Erwähnung, die von Hansjörg Küster bleibt unberücksichtigt.
Damit ist das Buch des Journalisten Olaf Kanter keineswegs disqualifiziert. Sein roter Faden ist die von ihm auf einem Küstenkreuzer namens Bijou zurückgelegte Strecke - einmal im Kreis durch die, mit Günter Grass gesprochen, "baltische Pfütze". Man hat gleich im Ohr, wie der Autor der "Blechtrommel" diesen Kosenamen wegnuschelt. Und mit der Haltung ist er nicht allein, gilt die Ostsee doch als Möchtegernmeer. In einem Liter Nordseewasser sind 35 Gramm Salz gelöst, in den abgelegensten Buchten der Ostsee sind es gerade einmal drei Gramm. Die Nordsee hat das Watt und dessen immensen Artenreichtum, die Ostsee dafür besonders nervige Mücken auf Rügen und im Fischland Darß. Das klingt, keine Frage, nach einem Diminutiv-Gewässer.
Was Kanter in seinem locker geschriebenen Buch dann aber zu berichten weiß, sollte Ostsee-Verharmloser aufhorchen lassen, denn dieser angebliche Tümpel "ist kein Spaßbad". Seine kleine Fläche bietet bei Sturm "nicht genug Strecke für einen 'ausgereiften' Seegang". Die Wellen sind mithin kürzer und steiler als auf der Nordsee. Den Reisenden auf der Fähre Estonia wurde das im September 1994 zum Verhängnis. 1000 Menschen waren an Bord, 852 von ihnen kamen ums Leben.
Kanter macht immer wieder deutlich, dass es die eine Ostsee nicht gibt; der Autor entdeckt mal ein junges, dann ein ungebändigtes, auch ein politisch geteiltes, schließlich ein von sauerstofffreien Todeszonen gebeuteltes Meer. Dabei wird er dem kundigen Leser keine grundstürzenden Neuigkeiten mitteilen können, aber unterhaltsam ist die Tour auf der Bijou durchaus. KAI SPANKE
Olaf Kanter: "Binnenmeer".
KJM Buchverlag, Hamburg 2024. 144 S., Abb., geb.
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