Am Ende zählt nur eins: auf der richtigen Seite stehen. Doch für die vier Menschen in dieser Geschichte, alle aus Idealismus an einen Ort der Gewalt im kolumbianischen Dschungel gekommen, ist die Grenze zwischen Gut und Böse längst verronnen. Sie setzen ihr Leben ein - als Mitglied der US-Special-Forces, als Journalistin, Patriot, Guerillero -, sie kämpfen um das Schicksal eines Landes, dessen Fundamente abgetragen wurden, von falschen Freunden in Washington, den Drogen, jahrzehntelangen Heilsversprechen. Und sie suchen mit aller Kraft Antworten auf eine Frage: Was heilt die Wunden der Geschichte, was lässt den Schmerz vergessen und an das Gute glauben?
Phil Klay verwandelt seine Erfahrungen als US-Marine in eine weltumspannende Geschichte des Krieges. Er legt ein brillantes erzählerisches Zeugnis ab von den Verheerungskräften der Zivilisation, von Liebe und Hass, Schuld und Stolz in einer globalisierten Welt.
Besprechung vom 15.02.2022
Wo sind noch Kriege zu gewinnen?
Schriftsteller und Ex-Marine: Phil Klay gelingt ein starkes Romandebüt über amerikanische Waffengänge im 21. Jahrhundert.
Die Fernsehserie "The Wire" (2002 bis 2008) wurde vor wenigen Monaten von der BBC zur bisher besten Serienproduktion des 21. Jahrhunderts gekürt. Ort der Handlung ist Baltimore, einst wohlhabende Hafenstadt an der amerikanischen Ostküste, mittlerweile Synonym für wirtschaftlichen Abstieg, Arbeitslosigkeit und ein grassierendes Drogenproblem. Letzteres wird in "The Wire" aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Im Verlauf der fünf Staffeln fließen unterschiedlichste Perspektiven ineinander und ergeben das eindrückliche Bild eines postindustriellen Niedergangs.
Der großartige Debütroman des amerikanischen Schriftstellers Phil Klay verfährt ähnlich, wobei sein Thema der Krieg ist. Handwerklich weiß Klay, wovon er spricht: Er war selbst als Marine im Irakkrieg. Seine Erfahrungen aus dieser Zeit hatte er bereits in zahlreichen Kurzgeschichten festgehalten; eine Sammlung ist 2014 unter dem Titel "Wir erschossen auch Hunde" auf Deutsch erschienen.
An "Den Sturm ernten" hat Klay sechs Jahre lang gearbeitet. Seinem Thema ist er treu geblieben, wobei sich das erzählerische Spektrum deutlich geweitet hat. Die primäre Kulisse des Romans ist nicht mehr der Wüsten- und Häuserkrieg im Irak, sondern Kolumbien, wo sich Drogenkartelle, Guerillabewegung, paramilitärische Verbände und der Staat in wechselnden Bündnissen einen unerbittlichen Bürgerkrieg liefern. Der dabei selbst für Experten schwer zu überblickenden Verworrenheit und Komplexität begegnet Klay, indem er sich dem Thema Schritt für Schritt nähert. Dennoch fällt es mitunter schwer, allen Verknüpfungen zu folgen, denn sein Tableau an Protagonisten ist beeindruckend. Im Zentrum der Handlung stehen vier Akteure, die verbindet, dass die Erfahrung von Krieg und Gewalt ihr Denken und Handeln maßgeblich prägt. Ihren jeweiligen Biographien ist die erste Hälfte des Romans gewidmet, bevor sich im zweiten Teil ihre Wege in Südamerika kreuzen.
Die Journalistin und Kriegsberichterstatterin Lisette hat ihre Touren im Irak und in Afghanistan körperlich unversehrt überstanden, den Glauben an Sinn und Zweck der Missionen jedoch verloren. Sie möchte an einen Ort, an dem die Vereinigten Staaten noch Kriege gewinnen können, woraufhin ihr Redakteur sie nach Kolumbien schickt, um über den aus Washington technologisch und finanziell gesteuerten Antidrogen- und Guerillakrieg zu berichten. Dort wird sie Opfer einer Entführung, was jedoch - Lisette ist amerikanische Staatsbürgerin - zu so großer Unruhe führt, dass der regionale Drogenbaron ihre Freilassung erzwingt. Den erhofften Zugewinn an Renommee vermag er dadurch indes nicht einzufahren, da parallel bereits eine militärische Kommandoaktion von kolumbianischen und amerikanischen Truppen gegen ihn läuft, die zu seiner Exekution führt. Daran beteiligt ist sowohl Mason, ein amerikanischer Soldat, der nach Einsätzen im Irak und in Afghanistan jetzt in Kolumbien die militärischen Hintergrundaktivitäten der Vereinigten Staaten steuert, als auch Juan Pablo, ein ehemaliger Elitesoldat im Kampf gegen die FARC-Guerilla, der nunmehr als kolumbianischer Liaisonoffizier in der amerikanischen Botschaft fungiert. Der Austausch der beiden schlägt die Brücke zwischen den Kriegen im Nahen Osten und Südamerika, wobei das verbindende Element die Kombination aus subjektiver Gewalterfahrung und perspektivischer Aussichtslosigkeit des Kampfes ist. Zynische Pointe: Am Ende kämpft Juan Pablo für 25 000 Dollar im Monat als Söldner im Jemen.
Abel, der Vierte im Bunde, wächst nahe der venezolanischen Grenze auf; Krieg und Auftragsmorde prägen seine Kindheit, früh wird er zur rechten Hand des regionalen Drogenbosses. Als vor seinen Augen ein unliebsamer Bürgermeister mit einer Kettensäge zerstückelt wird, bröckelt sein Weltbild. Im Rahmen eines staatlichen Amnestieprogramms sucht er den Ausstieg aus der Gewaltspirale. Der misslingt: Zu stark sind die gewachsenen Strukturen, als dass der Einzelne dagegen aufbegehren könnte. Auch er wird vom Militär exekutiert, Mason und Juan Pablo verfolgen die Vorgänge über die Bilder einer amerikanischen Drohnenkamera.
Klay ist mit seinem ersten Roman ein so verstörender wie zeitgemäßer Blick auf die Vereinigten Staaten gelungen. Mit der Darstellung der amerikanischen Kriege der vergangenen zwei Jahrzehnte beleuchtet er eine weitere Facette des politischen und moralischen Bedeutungsverlusts des Landes. An den langfristigen Erfolg der militärischen Missionen glaubt keiner seiner Protagonisten mehr. Für den Irak und Afghanistan hat sich das mittlerweile schmerzlich bewahrheitet. Und auch gegen das Drogenproblem der Vereinigten Staaten - Stichwort "The Wire" - vermochte der Einsatz in Kolumbien bekanntlich wenig auszurichten. FLORIAN KEISINGER.
Phil Klay: "Den Sturm ernten". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 496 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.