Besprechung vom 03.11.2024
Die Menschen glauben eher dem Körper
Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat ein Buch über die Formen nonverbaler Kommunikation geschrieben. Es hilft, die heutige Politik zu verstehen - und den Erfolg unerschütterlicher Selbstdarsteller wie Donald Trump. Eine Begegnung.
Von Franka Klaproth
Richard Sennett wartet in der Lobby des Hotel Bristol. Der Interviewtermin, ursprünglich auf 15 Uhr angesetzt, musste kurzfristig um eine Stunde vorverlegt werden - der Staatsbesuch von Präsident Biden hat den Stadtverkehr lahmgelegt. "Ein wenig nervtötend, mit Biden zeitgleich in der Stadt zu sein", sagt er. Seine Stimme ist leise und sanft, seine Wortwahl stets klar und präzise. Es klingt fast pflichtbewusst, als er hinzufügt: "Aber er ist ein guter Präsident."
Für den 81 Jahre alten Soziologen war es diesmal nur ein kurzer Aufenthalt in Berlin, einer Stadt, die er seit 50 Jahren häufig und länger besucht hat. Ebenso lange hat er sich in seinen Arbeiten mit dem städtischen Raum beschäftigt. Für ihn bedingen sich die architektonische Gestaltung von Räumen und soziale Phänomene wechselseitig. Über seine Beobachtungen zur Entwicklung von Städten in der Zukunft hatte er am Abend zuvor im "Futurium" gesprochen. Die zunehmende Verdichtung, die Auswirkungen auf den physischen Körper der Menschen und die damit einhergehenden sozialen Veränderungen gehören für ihn zu den größeren Herausforderungen unserer Zeit. Diese Verdichtung müsse jedoch nicht unweigerlich zu größerem Stress führen. Schon immer hat der Autor von "Der flexible Mensch" an die Resilienz des Menschen geglaubt.
Das Hotel Bristol liegt nicht weit entfernt vom derzeit geschlossenen Hotel Savoy, dem Sennett all die Jahre als Hotelgast treu war. "Es war das einzige Hotel, das ich kenne, in dem man ein Klavier bestellen konnte", sagt er. Von diesem Angebot habe er jedes Mal mit Freuden Gebrauch gemacht. Musik spielt im Leben des Theoretikers eine große Rolle. In seiner Jugend setzte Sennett alles daran, Berufsmusiker zu werden - hauptsächlich spielte er klassische Kammermusik -, bis eine Handverletzung und ein fehlgeschlagener chirurgischer Eingriff seinem Cellospiel ein Ende setzten. "So vollzog ich denn eine große Wende und fand eine Nische als Autor von Schriften über die Gesellschaft", heißt es im Vorwort seines neuen Buches "The Performer", auf Deutsch: "Der darstellende Mensch: Kunst, Leben, Politik".
Es soll der erste von drei Essays sein, in denen er "über die Präsenz der Kunst in der Gesellschaft" schreibt. Geplant sind noch Bücher über das Erzählen und das Abbilden. Die Trilogie soll "das gesamte Ausdrucksspektrum des Menschen" erfassen. "Ich glaube nicht, dass das Leben mir erlaubt, die beiden weiteren zu schreiben, aber wer weiß?", sagt Sennett. In seinem Buch steht: "Der Sensenmann könnte mich jederzeit holen. Deshalb schreibe ich die drei Essays als eigenständige Texte und hoffe auf das Beste."
Dass Richard Sennetts Arbeiten sich auch mit Kunst befassen, ist nicht neu. Was sich geändert hat, ist seine Perspektive. Aus Sicht eines "Darstellers" untersucht er das soziale Leben als Mosaik aus Darbietungen. Er zitiert dabei den melancholischen Jacques aus Shakespeares "Wie es euch gefällt": "Die ganze Welt ist eine Bühne."
"Dieses Buch ist sehr persönlich", sagt Sennett, erstmals schöpfe er für eine soziale Forschung aus seinen Erfahrungen als Musiker. Wie sich Städte als theatralische Schauplätze begreifen lassen, wie die nonverbale Interaktion eines Musikensembles auf das politische Weltgeschehen übertragen werden kann, hat den Soziologen schon länger beschäftigt. Den letzten Anstoß lieferte 2016 Donald Trump. Besser gesagt: dessen herrische Auftritte, durch die er die Massen mobilisierte, die ihm ungeachtet dessen, was er sagte, zujubelten und von denen ein kleiner Teil vier Jahre später sogar das Kapitol in Washington stürmte, nachdem Trump die Wahl verloren hatte.
"Trump ist ein sehr guter Darsteller", sagt Richard Sennett. "Und Hillary Clinton war es nicht. Ich habe damals in ihm eine Gefahr für die USA gesehen und gedacht: Ich sollte jetzt dieses Buch schreiben." Acht Jahre später ist Trump wieder im Rennen, trotz wiederholten Verbreitens von Fake News, trotz mehrerer laufender Gerichtsverfahren und Anzeichen kognitiven Verfalls, die laut einigen Experten auf Demenz hindeuten. Auch Sennett vermutet, der 78-Jährige sei dement. Joe Biden haben seine Alterserscheinungen die Kandidatur gekostet.
Worin liegt also der Unterschied? Laut Richard Sennett entscheiden über die Performanz der politischen Akteure in den USA nicht politische Inhalte, ja noch nicht einmal die verbale Ebene. Die meisten Mechanismen, um die Öffentlichkeit zu täuschen oder von sich zu überzeugen, funktionierten auf einer nonverbalen Ebene. "Journalisten berücksichtigen diese Tatsache so gut wie nie", sagt Sennett. "Ständig wird gefragt: Wie können Leute an diesen Unsinn glauben? Doch es geht nicht um Worte - die Menschen glauben dem Körper." Den Unterschied machen manchmal nur feine Details. Menschen beobachteten Donald Trump, wie er nonverbal zu sich und zu seinen Inhalten steht. "Es geht bei dieser Wahl nicht um verschiedene politische Ansichten. Es ist viel näher an dem, was eine Performance bewirken kann - nämlich Abgründe zu legitimieren und Zuschauer in den Bann zu ziehen." Die Vereinigten Staaten seien zwar eine Demokratie, aber keine sonderlich intelligente, sagt Sennett. "Die Menschen beschäftigen sich nicht wirklich mit politischen Positionen, gewählt wird nach Bauchgefühl."
Hier kommt auch Machiavelli ins Spiel. Die meisten jedoch, sagt Sennett, "lasen Machiavelli immer so, als würde er dem Politiker ausschließlich das Böse zuschreiben, doch in Wirklichkeit sah er die Maskierung als eine unausweichliche Notwendigkeit der politischen Praxis". Während es nach Sennetts Auffassung durchaus Politiker gibt, die Machiavellis Bild eines seine Rollen wechselnden Schauspielers entsprechen - er nennt den britischen Premierminister Keir Starmer als Beispiel -, liegt Trumps Anziehungskraft genau darin, dass er tief in einer einzigen Rolle verankert sei. Und das unterscheidet laut Sennett einen politischen Schauspieler von einem politischen Darsteller - Letzterer versuche nicht, für einen politischen Vorteil eine Maske aufzusetzen.
Jenseits der verbalen Ebene ist es Trumps unbeirrte und unerschütterliche Selbstdarstellung, die ihn auszeichnet. "Verlor Biden den Faden, wurde er nervös. Trump hingegen nicht", sagt Sennett. Trumps Fähigkeit, nie die Fassung zu verlieren, erreichte womöglich ihren Höhepunkt in den Sekunden nach dem Attentatsversuch im Juli. Wider jeden menschlichen Instinkt erhebt Trump da seinen von einem Schuss gestreiften Kopf über die schützenden Körper seines Sicherheitsteams. Die Dramatik des Moments könnte kaum intensiver sein: Die amerikanische Flagge weht über seinem blutbefleckten Gesicht, sein Blick zeigt keine Spur von Angst, nur einen entschlossenen Ausdruck, der seinen Anhängern gilt. Mit erhobener Faust - und obwohl das Mikrofon seine Worte kaum erfasst - formen seine Lippen eine Botschaft: "Kämpft. Kämpft." Das bizarre Szenario endet in Jubel. Bei dem versuchten Attentat wurden ein Zuschauer getötet und mehrere Menschen verletzt.
Richard Sennett kann sich eine solche Reaktion kaum erklären. "Vielleicht ist das Ereignis nicht das, was wir dachten", sagt er und wählt seine Worte jetzt besonders sorgfältig. "Ich glaube, das Ganze war inszeniert, auch wenn ich es nicht beweisen kann." Davon abgesehen, dass Trumps Ohr nach einer Minute aufgehört habe zu bluten, sei eine Abweichung von der Art und Weise zu erkennen, wie Präsidenten normalerweise geschützt werden: Das oberste Gebot der Secret-Service-Agenten sei es, den Körper des Präsidenten zu decken. In dieser unübersichtlichen Situation geschah das jedoch binnen Sekunden nicht mehr. Sennett schüttelt den Kopf. "Ich glaube es einfach nicht."
Mit Kamala Harris sieht sich Trump nun einer weitaus schärferen Konkurrenz gegenüber, als es bei Joe Biden der Fall war. Harris schlage sich gut als Darstellerin, so Sennett. "Trotzdem glaube ich, gibt es eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass Trump gewinnt." Wenige Tage vor der Wahl liegen die Kandidaten laut Umfragewerten nahezu gleichauf.
Was sich aktuell immer weiter voneinander entfernt, sind Darsteller und ihre Zuschauer. In seinem Buch erklärt Sennett anhand der verschiedenen historischen Bühnenformen das jeweilige Verhältnis zwischen Performern und Zuschauern. In der Antike bestand ein enges Verhältnis zwischen Zuschauern und Darsteller; Bühnenformen waren darauf ausgerichtet, dass beide Parteien miteinander in Dialog treten konnten. Seit Beginn der Moderne jedoch haben sich beide Positionen voneinander entfremdet. Während immer weniger Menschen in darstellende Rollen eintreten, wachse die Zahl der passiven Zuschauer kontinuierlich.
Insbesondere das Internet verstärke die deutliche Trennung und die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem Raum, den ein einzelner Darsteller einnimmt, und dem der Zuschauer. "Es gibt keine Teilnahme im Sinne eines Dialogs zwischen dem Politiker und der Öffentlichkeit", sagt Richard Sennett. "Der Zuschauer wird zum Gefangenen des Darstellers und ist nicht mehr sein Richter."
Das Problem sei strukturell, und wieder erkennt Sennett entscheidenden Reformbedarf in der Gestaltung städtischen Lebens. Der Großteil heutiger Straßen sei ausschließlich auf Funktionalität ausgerichtet, Begegnung und Anerkennung unter Menschen zu fördern falle häufig nicht mehr in den Aufgabenbereich von Stadtplanung. "Ich würde gerne mehr von der Art von Leben, das auf der Bühne stattfindet, wieder auf den Straßen sehen", sagt Sennett, "mehr Menschen, die miteinander interagieren, einander ansehen und sich wahrnehmen."
In der heutigen Gesellschaft gebe es zu viele Menschen, die in ihrem Alltag ausschließlich die Rolle des Zuschauers einnehmen, was nicht gut für menschliches Selbstwertgefühl sei. "Es ist eine Unterwerfung, die destruktiven Darstellern in die Hände spielt, wenn Menschen nur noch konsumieren." Sennetts Lieblingsstadt ist Neapel, wo sich das öffentliche Leben auf den Straßen abspielt, ermöglicht durch schmale Gassen, großzügige Plätze und das zufällige Aufeinandertreffen verschiedener Gemeinschaften. In solchen urbanen Räumen werden Interaktion und Konfrontation mit anderen Menschen zur unvermeidlichen Realität - ein Lebensumfeld, das einen nötigt, aus der passiven Zuschauerrolle herauszutreten. Hier entstehe, so Sennett, zugleich eine größere Nähe zwischen Darsteller und Publikum.
Richard Sennett: "Der darstellende Mensch: Kunst, Leben, Politik". Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Hanser Berlin, 288 Seiten
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