«Ich habe immer gedacht, dass es das Ende ist, wenn der Himmel auf die Erde fällt. Am 3. August 2014 ist der Himmel nicht auf die Erde gefallen, aber trotzdem war es das Ende.»
Nach ihrem Debüt Die Sommer legt Ronya Othmann den zweiten Roman vor. Sie will eine Form finden für das Unaussprechliche, einen Genozid, den vierundsiebzigsten, verübt 2014 in Shingal von Kämpfern des IS. Vierundsiebzig ist eine Reise zu den Ursprüngen, zu den Tatorten: in die Camps und an die Frontlinien, in die Wohnzimmer der Verwandten und von deutschen Gerichtssälen weiter in ein êzîdisches Dorf in der Türkei, in dem heute niemand mehr lebt.
«Vierundsiebzig ist vieles in einem - Autobiographie, Biographie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung in Echtzeit - und dennoch ein organisches Ganzes. Ein literarischer Befreiungsschlag.» Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
«Ein großes Werk und ein ungeheuer packendes dazu.» Die Welt
Besprechung vom 17.03.2024
Ihre Geschichte
"Vierundsiebzig": Ronya Othmann versucht, den Genozid an den Jesiden in einem Roman zu dokumentieren.
Von Alexandru Bulucz
Die Hauptfigur will vom jüngsten Genozid an den Jesiden Zeugnis abzulegen. "Es ist zu viel, denke ich. Ich frage mich, wer wird das lesen wollen? Ich verbiete mir diese Frage", sagt sie. "Was hat das mit mir gemacht, was habe ich gefühlt, als ich diese Geschichten erzählt bekommen habe? Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Ich habe nur geschrieben."
Das Vorhaben, den Genozid zu dokumentieren, ist an dieser Stelle schon weit fortgeschritten. Es geht dann über ins letzte Drittel dessen, was nun als zweiter Roman von Ronya Othmann vorliegt. Die Autorin und Dichterin wurde 1993 in München als Tochter einer Deutschen und eines Jesiden aus Syrien geboren. In "Die Sommer", ihrem Romandebüt von 2020, hatte sie noch eine an die eigene Biographie angelehnte Figur namens Leyla vorgeschickt, um über jesidisches Leben zu berichten. Jetzt, in "Vierundsiebzig", das "Die Sommer" thematisch und chronologisch weiterführt, sieht sie von einer Fiktionalisierung gänzlich ab und wirft sich selbst in die Waagschale. Trotzdem gilt ihr alles, was sie schreibt, als Fiktion.
Sich mit ganz und gar zur eigenen Betroffenheit qua Herkunft zu bekennen, sich ein Buch lang ins Zentrum der Narration vorzuwagen, wird sich als literarischer Befreiungsschlag erweisen. Ronya, "mit weichem R, langem O". Othmann, was wahrscheinlich auf "Osman", den Namen des jesidischen Ururgroßvaters, zurückgeht. Sie ist es selbst, die spricht, persönlich und ungeschützt, auch wenn sie sich auf ihren drei Reisen nach Kurdistan 2018, 2019 und 2022 meist als Journalistin vorstellt und das Berufsethos der Neutralität nie aus den Augen verliert. Die Ermordung ihres jesidischen Urgroßvaters Cindî, die jüngere Vertreibungs- und Fluchtgeschichte ihrer Familie und Verwandtschaft, die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt - all das ist Beweggrund ihrer großangelegten Schmerzdarstellung.
Immer wieder unterbrechen poetologische Passagen den manisch berichtenden, dokumentierenden, erinnernden und kartographierenden Strom des Romans. Sie zeugen vom inneren Widerstreit eines Menschen, der sich zum Medium der Zeugnisse Überlebender gemacht hat und beim Aufnahmeprozess zusehen muss, wie sich seine innere Verfassung verändert. Ein Mensch, der aufzeichnet und recherchiert und sich dabei die eigene Identität erschreibt. Ein Mensch, dessen Arbeit nach allen Seiten retraumatisierend wirkt. Das Zuviel an detaillierter Information über die an Jesiden verübte Gewalt, oft sexualisierte Gewalt, ist überwältigend, doch im Grunde macht dieses Zuviel nur einen winzigen Bruchteil der ganzen Geschichte aus.
Was am 3. August 2014 begann, ist ins kollektive Gedächtnis der Jesiden als 74. Ferman eingegangen - das Wort stammt aus dem Persischen und meint "Erlass". Es war der 74. Versuch, in diesem Fall des "Islamischen Staats", die Jesiden systematisch auszulöschen, weil sie Jesiden sind, dem IS zufolge teufelsanbetende Ungläubige. Indem uns Othmann den 74. Ferman im Kontext der dauerhaften Verfolgung der Jesiden erschließt, legt sie ein Strukturmerkmal der jesidischen Geschichte offen, das die Jesiden mit anderen historisch marginalisierten Gruppen zu verbinden scheint. Armenier, Aleviten, Bosniaken, Juden - in "Vierundsiebzig" treten sie alle als "Geschwister" der Jesiden auf. Doch Othmann bleibt skeptisch, ob erlittenes historisches Unrecht allein Allianzbildungen begründen kann:
"Ist es eine Verwandtschaft im Schmerz oder eine Verwandtschaft, die sich aus den Verbrechen ergibt? Eine Anerkennung der Gewaltverbrechen, die an anderen verübt wurden, der Versuch, etwas zu sagen, das einer Beileidsbekundung gleichkäme, wo doch keine solche Formel ausreichen kann. Oder ist die hier beschworene Verwandtschaft am Ende nur eine wohlmeinende Lüge. Die Beschwörung einer Gemeinschaft von Opfergruppen, die es so gar nicht gibt."
Überlegungen aussprechen, direkt relativieren, revidieren oder gar streichen: Eine diesen Roman bestimmende Technik, mit der sich Othmann entschleunigt und sich vor voreiligen Schlüssen bewahrt. Das ist keine Stilisierung und auch keine Flucht vor Vereindeutigung, sondern eine volle Anerkennung von Komplexitäten. Othmann ist hin- und hergerissen zwischen einem ausdrücklichen Misstrauen gegenüber dem "Wir" und einer starken Selbstidentifizierung als Jesidin: "Ich traue dem Wir nicht mehr, und ich traue dem Ich nicht mehr", heißt es noch recht am Anfang des Romans. Und gegen Ende: "Wir, schreibe ich, haben keine Geschichte." Es ist eine Instabilität, deren Gründe sie nicht zuletzt im Jesidentum selbst finden wird.
Othmann hat nicht vergessen, dass ihre Schwester sie einmal eine "Abtrünnige" genannt hatte. Auch der Vater, ein ehemaliger verfolgter Kommunist und Atheist, kokettiert damit, ein Abtrünniger zu sein, denn er hat eine Deutsche geheiratet. Nach jesidischer Tradition darf aber nur unter Jesiden geheiratet werden, sonst droht der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dass ihn dieses Schicksal nicht ereilt habe, liege daran, dass er ein Mann sei und nicht schwul, heißt es einmal. "Ich sage mir", so Othmann, "ich muss einen schwulen Êzîden heiraten. Scheinehe, sage ich mir. Aber es ist nicht nur das. Ich sage mir, ich muss das streichen. Darüber kann ich nicht sprechen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen." Dass sie dann doch über die Reformnotwendigkeit des Jesidentums spricht und sprechen lässt, macht ihren Roman umso schonungsloser, denn der Genozid an den Jesiden liegt noch gar nicht lange zurück, als der Verkauf von Alkohol oder lackierte Fußnägel leicht ein Todesurteil bedeuten konnten.
Was Othmann dann auf ihren unsicheren Recherchereisen aufzeichnet, die sie stets in Begleitung, auch ihres Vaters, unternimmt, ist nur noch entsetzlich. Sie erfährt zum Beispiel von der Verschleppung einer Frau mit Kind, kein Jahr alt, die an einen Emir geraten. Weil er vom unaufhörlichen Hungergeschrei des Kindes nicht schlafen konnte, soll er es der Mutter weggenommen, es in die Küche gebracht, ihm dort den Kopf abgeschnitten, dessen Fleisch gekocht und es der Mutter dann vorgesetzt haben. Eine Bestialität des IS war auf die nächste gefolgt, aus purem Hass. Und überall dort, wo es ihr möglich ist, dokumentiert Othmann auch die Namen der Opfer und entreißt sie auf diese Weise dem ansonsten sicheren Vergessen.
In einer Halle des Amna-Suraka-Museums in Silêmanî traut Othmann ihren Augen nicht, als sie feststellt, dass dort nichts an Jesiden erinnert: "Ist die Wunde noch zu frisch? Oder ist die Geschichte der Êzîden einfach nicht heldenhaft genug, im Gegenteil, ihr Sterben zu erbärmlich, um in diesem Museum davon zu erzählen?" Die Schreianfälle ihres Cousins Loran setzen immer dann an, wenn über Shingal, einen der Tatorte des IS, gesprochen wird, als könnte das Unsagbare nur noch mit unartikulierten Lauten kompensiert werden. Als Angelina Jolie als Sondergesandte des UN-Flüchtlingshilfswerks nach Mossul reist, fällt Othmann auf, dass sie keine jesidischen Familien besucht hat. Die Frau in Hamdûna, bei der Othmann Tee trinkt, bemerkt das Band mit den kurdischen Farben an ihrem Handgelenk, zerrt sie in die Küche, holt ein Messer und will es abmachen: "Wenn die das sehen, bringen sie dich um, oder sie sperren dich ein." Am Flughafen in Bagdad weigert sich Othmanns Vater, Arabisch zu sprechen, obwohl er es perfekt beherrscht: "Es ist die Sprache unserer Unterdrücker", sagt er. Anderswo behauptet er, nicht traumatisiert zu sein. Und immer so weiter.
Überall massive psychische Folgeschäden von Verfolgung und ein Mangel an Würdigung von Jesiden, ihres Schicksals, ihrer Kultur, ihrer Sprache. Ein Mangel, an dem eine abgeschwächte Form des "kulturellen Genozids" erkennbar wird, der in der Zerstörung jesidischer Heiligtümer durch den IS kulminierte. Oder eine "Auslöschung der Auslöschung", wie Othmann notiert, während der IS 2019 ganze Landstriche in Shingal in Brand steckt und Beweismittel des Genozids für immer verloren zu gehen drohen.
Im sicheren Deutschland, das die größte jesidische Diaspora weltweit beherbergt, verfolgt Othmann dann die juristische und politische Aufarbeitung des Genozids, besucht Gerichtsprozesse, so auch gegen die IS-Rückkehrerin Jennifer W. aus Niedersachsen, die ein gefesseltes jesidisches Kind in praller Sonne kaltblütig verdursten ließ. Und sie erforscht vor allem jesidische Kultur und entdeckt für uns den britischen Archäologen Austen Henry Layard und seine kanonischen Bücher über die Jesiden wieder, die auf Recherchen am Ort beruhen. Hier zeigt sich das große ethnographische Interesse Othmanns, die sich liebevoll, ja demütig dem jesidischen Brauchtum nähert.
"Ich habe Angst, dass das, was ich gesehen und gehört habe, mir entgleitet. Dass mir mein Blick verschwimmt", schreibt Ronya Othmann im ersten Teil ihres Romans. Die Angst stellt sich als unbegründet dar. "Vierundsiebzig" ist vieles in einem - Autobiographie, Biographie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung in Echtzeit - und dennoch ein organisches Ganzes. Es ist ein Meilenstein der literarischen Genozidforschung und die Widerlegung der Behauptung, die Jesiden hätten keine Geschichte.
Ronya Othmann, "Vierundsiebzig". Roman. Rowohlt, 512 Seiten, 26 Euro. Alexandru Bulucz ist Lyriker und Übersetzer.
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