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Vierundsiebzig

Roman | Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024

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«Ich habe immer gedacht, dass es das Ende ist, wenn der Himmel auf die Erde fällt. Am 3. August 2014 ist der Himmel nicht auf die Erde gefallen, aber trotzdem war es das Ende.»

Nach ihrem Debüt Die Sommer legt Ronya Othmann den zweiten Roman vor. Sie will eine Form finden für das Unaussprechliche, einen Genozid, den vierundsiebzigsten, verübt 2014 in Shingal von Kämpfern des IS. Vierundsiebzig ist eine Reise zu den Ursprüngen, zu den Tatorten: in die Camps und an die Frontlinien, in die Wohnzimmer der Verwandten und von deutschen Gerichtssälen weiter in ein êzîdisches Dorf in der Türkei, in dem heute niemand mehr lebt.

«Vierundsiebzig ist vieles in einem - Autobiographie, Biographie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung in Echtzeit - und dennoch ein organisches Ganzes. Ein literarischer Befreiungsschlag.» Alexandru Bulucz, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

«Ein großes Werk und ein ungeheuer packendes dazu.» Die Welt

Produktdetails

Erscheinungsdatum
12. März 2024
Sprache
deutsch
Auflage
2. Auflage
Seitenanzahl
512
Autor/Autorin
Ronya Othmann
Verlag/Hersteller
Produktart
gebunden
Gewicht
622 g
Größe (L/B/H)
204/134/49 mm
ISBN
9783498003616

Portrait

Ronya Othmann

Ronya Othmann


, als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters 1993 in München geboren, schreibt Lyrik, Prosa und Essays und arbeitet als Journalistin. Für ihr Schreiben wurde sie viele Male ausgezeichnet, u.a. mit dem Lyrik-Preis des Open Mike, dem MDR-Literaturpreis und dem Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik. Für

Die Sommer

, ihren ersten Roman, bekam sie 2020 den Mara-Cassens-Preis zugesprochen, für den Lyrikband

die verbrechen

(2021) den Orphil-Debütpreis, den Förderpreis des Horst-Bienek-Preises und den Horst Bingel-Preis 2022.

Vierundsiebzig,

ihr zweiter Roman, wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2024 sowie dem Erich-Loest-Preis 2025 ausgezeichnet.


Pressestimmen

Man muss Othmanns Nervenstärke bewundern, die nötig gewesen sein muss für ihre teilnehmende Beobachtung. Und das erzählerische Können, dem sich ihre atemberaubende literarische Reportage verdankt. Sie ist eine große Schriftstellerin. Ronald Düker, Die Zeit

Eine epochale Erkenntnisarbeit. Sabine Scholl, Der Standard

Ein eindrucksvolles Buch. Fokke Joel, nd-aktuell.de (neues deutschland)

Ein wichtiges, ein großes Buch. Anne-Catherine Simon, diepresse.com

Eine große Erzählung. Kieler Nachrichten

Ronya Othmann hat mit ihrer bewegenden Darstellung den Opfern ein Denkmal gesetzt und allen anderen zu denken gegeben ... Bedeutsamer war autobiographisches Schreiben, ob man es nun subjektiven Essayismus, Autofiktion oder erweitertes Memoir nennt, hierzulande lange nicht. Oliver Jungen, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Statt farbigem Abglanz liefert "Vierundsiebzig" eine Poetik des Unaussprechlichen. Im Fluchtpunkt der unendlichen Annäherung der beiden Perspektiven dieses beeindruckenden Sprachkunstwerks gewinnt Gestalt, was der Wahrnehmung entgleitet. Stefan Kister, stuttgarter-zeitung.de

Ronya Othmanns Buch ist ein grosser Schrecken und ein grosses Glück, weil es auf jeder Seite dem Vergessen widerspricht. Nora Zukker, Tages-Anzeiger

Es gibt wohl nur wenige Bücher, die das Fremdsein der Menschen zwischen Orient und Okzident so erschütternd festhalten. Und die doch ebenso ein Gefühl von Kindheit vermitteln, die ja immer Heimat ist. Herbert Heinzelmann, Nürnberger Nachrichten

Fast nebenbei erzählt Othmann eine vielschichtige, denkbar unsentimentale undgerade deshalb so anrührende Vater-Tochter-Geschichte, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht ... Ein großes Werk und ein ungeheuer packendes dazu. Marianna Lieder, Welt am Sonntag

Wie kann man Worte, wie eine Sprache finden, um von solchem Horror, von solchen Verbrechen zu erzählen? Das ist die Frage, der Ronya Othmanns zweiter Roman "Vierundsiebzig" mit literarischen Mitteln nachspürt - auf bewegende und beeindruckende Weise. WDR "Cosmo"

Dieses Buch sei jenen empfohlen, die derzeit den Begriff "Genozid" leicht auf der Zunge tragen. Die Autorin Ronya Othmann beschreibt in "Vierundsiebzig", was die Auslöschung eines Volkes wirklich heisst. Indem sie mit Überlebenden spricht. Martina Läubli, Bücher am Sonntag (Beilage NZZ am Sonntag)

"Vierundsiebzig" ist in Tagen, in denen das Thema Genozid wegen des Zeitgeschehens in Nahost mal juristisch, mal wissenschaftlich, mal polemisch und nicht selten saudumm verhandelt wird, ganz unpolemisch ein wichtigesBuch. Moritz Baumstieger, Süddeutsche Zeitung

"Vierundsiebzig" ist mehr als ein Roman. Es ist ein Dokument, das der Archäologie nahe ist, und legt im Grabungsprozess die Sprache des Völkermords frei. Rafael Greboggy, Kölner Stadt-Anzeiger

Es sind die kleinen Alltagsschilderungen, die das in jeder Hinsicht unfassbare Material zusammenhalten, der Schwere immer wieder Lebendigkeit injizieren. Eva Behrendt, taz

In einer großen literarischen Recherche dokumentiert Ronya Othmann die Geschichte und Verfolgung der Êzîden ... Eine fesselnde Odyssee. Eva Behrendt, taz

Othmann schafft ihre ganz eigene literarische Form. Sie listet, protokolliert, berichtet, vermag gar die karge, sonnenflirrende Landschaft zu poetisieren ... Mit "Vierundsiebzig" hat sie ein unbedingt nötiges Monument geschaffen. Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel

Ein Meilenstein der literarischen Genozidforschung. Alexandru Bulucz, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

"Vierundsiebzig" ist vieles in einem Autobiographie, Biographie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung in Echtzeit und dennoch ein organisches Ganzes. Ein literarischer Befreiungsschlag. Alexandru Bulucz, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

"Vierundsiebzig" ist Reportage, Essay, Reisebeschreibung ein fünfhundertseitiges Buch über das Dokumentieren des Völkermords und der Versuch, eine Sprache dafür zu finden. Wolfgang Schneider, SWR 2 "Lesenswert"

Dieses Buch ist kaum auszuhalten. Doch gerade deshalb sollte man es lesen. Leander F. Badura, der Freitag

Es gibt keine Spielfreiheit der Fiktion. Die Instanz des erzählenden Ichs ist dennoch wichtig, denn sie hält den ausufernden Text zusammen und macht das Umkreisen des Unbegreifbaren psychologisch plausibel. Wolfgang Schneider, NDR "Am Morgen vorgelesen"

Schockierend, grausam, bewegend - und am Ende ein ziemlich lehrreiches Buch. Gerrit Bartels, RBB Kulturradio

Weite, aus Sprache gebaute Landschaften ... ein so persönlicher und berührender Roman. Tobias Lehmkuhl, Deutschlandfunk "Büchermarkt"

Besprechung vom 17.03.2024

Ihre Geschichte

"Vierundsiebzig": Ronya Othmann versucht, den Genozid an den Jesiden in einem Roman zu dokumentieren.

Von Alexandru Bulucz

Die Hauptfigur will vom jüngsten Genozid an den Jesiden Zeugnis abzulegen. "Es ist zu viel, denke ich. Ich frage mich, wer wird das lesen wollen? Ich verbiete mir diese Frage", sagt sie. "Was hat das mit mir gemacht, was habe ich gefühlt, als ich diese Geschichten erzählt bekommen habe? Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Ich habe nur geschrieben."

Das Vorhaben, den Genozid zu dokumentieren, ist an dieser Stelle schon weit fortgeschritten. Es geht dann über ins letzte Drittel dessen, was nun als zweiter Roman von Ronya Othmann vorliegt. Die Autorin und Dichterin wurde 1993 in München als Tochter einer Deutschen und eines Jesiden aus Syrien geboren. In "Die Sommer", ihrem Romandebüt von 2020, hatte sie noch eine an die eigene Biographie angelehnte Figur namens Leyla vorgeschickt, um über jesidisches Leben zu berichten. Jetzt, in "Vierundsiebzig", das "Die Sommer" thematisch und chronologisch weiterführt, sieht sie von einer Fiktionalisierung gänzlich ab und wirft sich selbst in die Waagschale. Trotzdem gilt ihr alles, was sie schreibt, als Fiktion.

Sich mit ganz und gar zur eigenen Betroffenheit qua Herkunft zu bekennen, sich ein Buch lang ins Zentrum der Narration vorzuwagen, wird sich als literarischer Befreiungsschlag erweisen. Ronya, "mit weichem R, langem O". Othmann, was wahrscheinlich auf "Osman", den Namen des jesidischen Ururgroßvaters, zurückgeht. Sie ist es selbst, die spricht, persönlich und ungeschützt, auch wenn sie sich auf ihren drei Reisen nach Kurdistan 2018, 2019 und 2022 meist als Journalistin vorstellt und das Berufsethos der Neutralität nie aus den Augen verliert. Die Ermordung ihres jesidischen Urgroßvaters Cindî, die jüngere Vertreibungs- und Fluchtgeschichte ihrer Familie und Verwandtschaft, die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt - all das ist Beweggrund ihrer großangelegten Schmerzdarstellung.

Immer wieder unterbrechen poetologische Passagen den manisch berichtenden, dokumentierenden, erinnernden und kartographierenden Strom des Romans. Sie zeugen vom inneren Widerstreit eines Menschen, der sich zum Medium der Zeugnisse Überlebender gemacht hat und beim Aufnahmeprozess zusehen muss, wie sich seine innere Verfassung verändert. Ein Mensch, der aufzeichnet und recherchiert und sich dabei die eigene Identität erschreibt. Ein Mensch, dessen Arbeit nach allen Seiten retraumatisierend wirkt. Das Zuviel an detaillierter Information über die an Jesiden verübte Gewalt, oft sexualisierte Gewalt, ist überwältigend, doch im Grunde macht dieses Zuviel nur einen winzigen Bruchteil der ganzen Geschichte aus.

Was am 3. August 2014 begann, ist ins kollektive Gedächtnis der Jesiden als 74. Ferman eingegangen - das Wort stammt aus dem Persischen und meint "Erlass". Es war der 74. Versuch, in diesem Fall des "Islamischen Staats", die Jesiden systematisch auszulöschen, weil sie Jesiden sind, dem IS zufolge teufelsanbetende Ungläubige. Indem uns Othmann den 74. Ferman im Kontext der dauerhaften Verfolgung der Jesiden erschließt, legt sie ein Strukturmerkmal der jesidischen Geschichte offen, das die Jesiden mit anderen historisch marginalisierten Gruppen zu verbinden scheint. Armenier, Aleviten, Bosniaken, Juden - in "Vierundsiebzig" treten sie alle als "Geschwister" der Jesiden auf. Doch Othmann bleibt skeptisch, ob erlittenes historisches Unrecht allein Allianzbildungen begründen kann:

"Ist es eine Verwandtschaft im Schmerz oder eine Verwandtschaft, die sich aus den Verbrechen ergibt? Eine Anerkennung der Gewaltverbrechen, die an anderen verübt wurden, der Versuch, etwas zu sagen, das einer Beileidsbekundung gleichkäme, wo doch keine solche Formel ausreichen kann. Oder ist die hier beschworene Verwandtschaft am Ende nur eine wohlmeinende Lüge. Die Beschwörung einer Gemeinschaft von Opfergruppen, die es so gar nicht gibt."

Überlegungen aussprechen, direkt relativieren, revidieren oder gar streichen: Eine diesen Roman bestimmende Technik, mit der sich Othmann entschleunigt und sich vor voreiligen Schlüssen bewahrt. Das ist keine Stilisierung und auch keine Flucht vor Vereindeutigung, sondern eine volle Anerkennung von Komplexitäten. Othmann ist hin- und hergerissen zwischen einem ausdrücklichen Misstrauen gegenüber dem "Wir" und einer starken Selbstidentifizierung als Jesidin: "Ich traue dem Wir nicht mehr, und ich traue dem Ich nicht mehr", heißt es noch recht am Anfang des Romans. Und gegen Ende: "Wir, schreibe ich, haben keine Geschichte." Es ist eine Instabilität, deren Gründe sie nicht zuletzt im Jesidentum selbst finden wird.

Othmann hat nicht vergessen, dass ihre Schwester sie einmal eine "Abtrünnige" genannt hatte. Auch der Vater, ein ehemaliger verfolgter Kommunist und Atheist, kokettiert damit, ein Abtrünniger zu sein, denn er hat eine Deutsche geheiratet. Nach jesidischer Tradition darf aber nur unter Jesiden geheiratet werden, sonst droht der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dass ihn dieses Schicksal nicht ereilt habe, liege daran, dass er ein Mann sei und nicht schwul, heißt es einmal. "Ich sage mir", so Othmann, "ich muss einen schwulen Êzîden heiraten. Scheinehe, sage ich mir. Aber es ist nicht nur das. Ich sage mir, ich muss das streichen. Darüber kann ich nicht sprechen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen." Dass sie dann doch über die Reformnotwendigkeit des Jesidentums spricht und sprechen lässt, macht ihren Roman umso schonungsloser, denn der Genozid an den Jesiden liegt noch gar nicht lange zurück, als der Verkauf von Alkohol oder lackierte Fußnägel leicht ein Todesurteil bedeuten konnten.

Was Othmann dann auf ihren unsicheren Recherchereisen aufzeichnet, die sie stets in Begleitung, auch ihres Vaters, unternimmt, ist nur noch entsetzlich. Sie erfährt zum Beispiel von der Verschleppung einer Frau mit Kind, kein Jahr alt, die an einen Emir geraten. Weil er vom unaufhörlichen Hungergeschrei des Kindes nicht schlafen konnte, soll er es der Mutter weggenommen, es in die Küche gebracht, ihm dort den Kopf abgeschnitten, dessen Fleisch gekocht und es der Mutter dann vorgesetzt haben. Eine Bestialität des IS war auf die nächste gefolgt, aus purem Hass. Und überall dort, wo es ihr möglich ist, dokumentiert Othmann auch die Namen der Opfer und entreißt sie auf diese Weise dem ansonsten sicheren Vergessen.

In einer Halle des Amna-Suraka-Museums in Silêmanî traut Othmann ihren Augen nicht, als sie feststellt, dass dort nichts an Jesiden erinnert: "Ist die Wunde noch zu frisch? Oder ist die Geschichte der Êzîden einfach nicht heldenhaft genug, im Gegenteil, ihr Sterben zu erbärmlich, um in diesem Museum davon zu erzählen?" Die Schreianfälle ihres Cousins Loran setzen immer dann an, wenn über Shingal, einen der Tatorte des IS, gesprochen wird, als könnte das Unsagbare nur noch mit unartikulierten Lauten kompensiert werden. Als Angelina Jolie als Sondergesandte des UN-Flüchtlingshilfswerks nach Mossul reist, fällt Othmann auf, dass sie keine jesidischen Familien besucht hat. Die Frau in Hamdûna, bei der Othmann Tee trinkt, bemerkt das Band mit den kurdischen Farben an ihrem Handgelenk, zerrt sie in die Küche, holt ein Messer und will es abmachen: "Wenn die das sehen, bringen sie dich um, oder sie sperren dich ein." Am Flughafen in Bagdad weigert sich Othmanns Vater, Arabisch zu sprechen, obwohl er es perfekt beherrscht: "Es ist die Sprache unserer Unterdrücker", sagt er. Anderswo behauptet er, nicht traumatisiert zu sein. Und immer so weiter.

Überall massive psychische Folgeschäden von Verfolgung und ein Mangel an Würdigung von Jesiden, ihres Schicksals, ihrer Kultur, ihrer Sprache. Ein Mangel, an dem eine abgeschwächte Form des "kulturellen Genozids" erkennbar wird, der in der Zerstörung jesidischer Heiligtümer durch den IS kulminierte. Oder eine "Auslöschung der Auslöschung", wie Othmann notiert, während der IS 2019 ganze Landstriche in Shingal in Brand steckt und Beweismittel des Genozids für immer verloren zu gehen drohen.

Im sicheren Deutschland, das die größte jesidische Diaspora weltweit beherbergt, verfolgt Othmann dann die juristische und politische Aufarbeitung des Genozids, besucht Gerichtsprozesse, so auch gegen die IS-Rückkehrerin Jennifer W. aus Niedersachsen, die ein gefesseltes jesidisches Kind in praller Sonne kaltblütig verdursten ließ. Und sie erforscht vor allem jesidische Kultur und entdeckt für uns den britischen Archäologen Austen Henry Layard und seine kanonischen Bücher über die Jesiden wieder, die auf Recherchen am Ort beruhen. Hier zeigt sich das große ethnographische Interesse Othmanns, die sich liebevoll, ja demütig dem jesidischen Brauchtum nähert.

"Ich habe Angst, dass das, was ich gesehen und gehört habe, mir entgleitet. Dass mir mein Blick verschwimmt", schreibt Ronya Othmann im ersten Teil ihres Romans. Die Angst stellt sich als unbegründet dar. "Vierundsiebzig" ist vieles in einem - Autobiographie, Biographie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung in Echtzeit - und dennoch ein organisches Ganzes. Es ist ein Meilenstein der literarischen Genozidforschung und die Widerlegung der Behauptung, die Jesiden hätten keine Geschichte.

Ronya Othmann, "Vierundsiebzig". Roman. Rowohlt, 512 Seiten, 26 Euro. Alexandru Bulucz ist Lyriker und Übersetzer.

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.

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Von darkola77 am 30.05.2024

Genozid an den Eziden dokumentarisches Erzählen, so wichtig und beeindruckend

Eindringlich, erschütternd, schonungslos: Ronya Othmanns Worte gehen tief in Mark und Bein, in Kopf und Herz und bleiben dort. Denn tief und existenziell ist ihre Frage nach einem Leben und Fortleben nach dem Moment, in dem die Zeit stillgestanden und das Unaussprechliche eingetreten ist. Und die Uhren sich anschließend trotzdem weiterdrehen. Und die Welt verändert zurücklassen. Der 3. August 2014 ist dieser Tag, der Tag des Einschnitts, Todes und der Vertreibung. Der Tag des Genozides an der ezidischen Bevölkerung, dem vierundsiebzigsten. Verübt durch den sogenannten Islamischen Staat, in Shingal im Irak. Tausende Menschen fanden den Tod, grausam ermordet oder verhungert und verdurstet in den Bergen Sindschars. Und weitere Tausende, vor allem Frauen und Mädchen, wurden entführt, in Sklaverei verkauft, vergewaltigt, entmenschlicht. Für das Unaussprechliche Worte finden, dem Schrecken Bild und Ausdruck verleihen Ronya Othmann begibt sich auf die Reise zu den Orten der Morde und Vertreibungen, in die Camps und Häuser der Menschen, traumatisiert und verwundet in Körper und Seele, auf die Spuren ihrer Verwandten. Ihre Begegnungen, Eindrücke und Erfahrungen in der Türkei, Syrien und Irak setzt sie dabei in Beziehung zu ihrer eigenen Familiengeschichte, verflechtet sie mit ihrem eigenen Leben, geprägt und für immer gezeichnet von dem Völkermord. Die Sachlichkeit in ihrem Erzählen steht im Kontrast zu den verübten Grausamkeiten und schier endlosem Leid und ermöglicht so einen Zugang zu Geschehnissen, die aufgrund der hohen Emotionalität dessen, was sie bei Schreibender und Lesenden hervorrufen, sonst kaum greif- und ertragbar erscheinen. Und so schafft Othmann Gehör für Ungesagtes und Raum und Bereitschaft für die Auseinandersetzung mit dem Genozid, der in unserem Kulturkreis zu oft, zu lang Kopf und Herzen nicht erreichte. Und zugleich hat sie mit Vierundsiebzig einen Roman erschaffen, der überdauern und bleiben wird als Mahnung, Erinnerung, Zeugnis einer großen, aufstrebenden Autorin.
LovelyBooks-BewertungVon darkola77 am 30.05.2024
Erschütternd, beeindruckend, unbedingt lesen!