Besprechung vom 07.09.2021
Sich vereinzeln ist nicht einfach
Rüdiger Safranski widmet sich anspruchsvollen Konzepten der Selbstverwirklichung
"Égoïste", so nannte Chanel sein Herrenparfüm, das 1990 den weltweiten Markt in rasantem Tempo eroberte und den Konzern mit Umsätzen überraschte, die weit über die ursprünglichen Prognosen hinausschossen. Ganz sicher war dies auch das Resultat einer mit höchstem finanziellem und ästhetischem Aufwand inszenierten Werbekampagne, die bald schon Gegenstand kulturwissenschaftlicher Aufsätze wurde. In jedem Fall aber ist es ein schlagendes Beispiel für die Logik der modernen Konsumgesellschaft, in der sich der Einzelne nicht mehr nur durch Bildung und Kultur abhebt, sondern sich durch Kaufentscheidungen Distinktionsgewinne erzielen lassen.
An diese soziologische Diagnose schließt Rüdiger Safranski in seinem neuen Buch an, das dem "Einzeln sein" gewidmet ist. Selbstverwirklichung bedeute heute oft nur, so stellt er einleitend fest, entweder Selbstdarstellung oder Konsum. Vor diesem Hintergrund geht es ihm darum, Selbstverwirklichung "anspruchsvoller" zu denken, und das heißt: sowohl als individuelle Anforderung an einen selbst als auch als konstante Auseinandersetzung mit der umgebenden Gesellschaft. Denn dieser gehört auch der Einzelne, ob er es nun will oder nicht, immer an.
Safranski greift für seine Darstellung zurück in die Geschichte seit der Renaissance und skizziert Entwürfe des Selbstseins bei etwa zwei Dutzend Künstlern und Autoren - von Michelangelo über Montaigne bis zu Jean-Paul Sartre und Ernst Jünger -, die in knappen biographischen Skizzen und theoretischen Abrissen porträtiert werden. Dabei zeigt sich immer wieder Safranskis Könnerschaft, auch wenig eingängige Theorien präzise und anschaulich aufzubereiten. Auf den Begriff des "Einzelnen" ist er nicht terminologisch festgelegt. Auch Egoisten sind dabei: Max Stirners "Einziger" etwa, der alles, was über ihn hinausgeht, zu seinem Eigentum machen muss, um sich selbst nicht abhandenzukommen, oder Stendhals "Egotist", dem es eher um die "Kunst zu scheinen" zu tun ist als um das bloße Eigeninteresse. Was Safranski interessiert, ist eine Form des Selbstverhältnisses, dem es um seine ureigensten Möglichkeiten geht, um eine gesteigerte Weise des Selbstbezugs also.
Beispiele hierfür reiht er chronologisch aneinander, will die Darstellung aber nicht als durchgehende Geschichte verstanden wissen. Statt einer einzigen reißt er viele verschiedene Linien an und legt Vergleiche nahe: vom Auftauchen des "Genies" in der Renaissance zu einem "Individualartisten" und Charismatiker wie Stefan George oder vom Todesdenken bei Luther oder Montaigne hin zum Existenzialismus des zwanzigsten Jahrhunderts. Manche Konstellationen legt Safranski paarweise an, wobei die Aufnahme Diderots in den Kreis der Individualtheoretiker etwas gezwungen wirkt und offenbar dem Wunsch geschuldet ist, dem zwischen den Extremen von radikalem Rückzug und totaler Vergesellschaftung schwankenden Rousseau eine heiterere Gestalt der Aufklärung zur Seite zu stellen. Die Komplementarität von Martin Heidegger und Hannah Arendt, von Geworfenheit und Gebürtlichkeit, hat Safranski schon in seiner Heidegger-Biographie angelegt, was ihm seinerzeit den kritischen Einwand einbrachte, er reserviere damit für Arendt die undankbare Rolle, den Denker demokratisieren zu müssen.
In der Tat führt Arendts Verständnis des "Anfangens", so Safranski, zu einer Vorstellung demokratischen Zusammenlebens. Das ist in dem Buch eine Ausnahme. Denn meistens geht es dem Einzelnen im emphatischen Sinn eben nicht darum, sich in eine Gesellschaft zu integrieren oder der Frage nachzugehen, wie aus vielen Einzelnen ein Gemeinwesen geschaffen werden kann. Im Gegenteil ist gerade die Abstoßung von der Gesellschaft das Markenzeichen fast aller Protagonisten, von denen das Buch handelt: George, der sich in einem elitären Kreis absetzt, oder Thoreau, der sich in die Einsamkeit zurückzieht, um am Walden Pond in und mit der Natur eine Geselligkeit zu finden, die ihm die moderne Großstadt versagt.
Unter diesem Aspekt ist es wohl konsequent, dass dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert breiter Raum gewährt wird: der Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Orientierung an Geld, Nützlichkeit und Verwertbarkeit, der Kritik an der Industriegesellschaft mit ihren rationalistischen und mechanistischen Zwängen und vor allem der Abstoßungsreaktion gegen die anonymen Massen. In diesen Kapiteln sind konsequenterweise die Theoretiker des Einzelnen gleichzeitig die Analytiker der Massengesellschaft: Gustave Le Bon mit der "Psychologie der Massen", Sigmund Freud als Autor einer Massenpsychologie, Hermann Broch, den die "Gewalt der totalitär erregten Massen" ins Exil trieb, und schließlich Elias Canetti mit "Masse und Macht". In diese Linie stellt Safranski auch noch Karl Jaspers, der die Existenz des Einzelnen vom "Massendasein" abhebt, und schließlich Heidegger, dessen "Man" Safranski in durchaus diskutabler Weise zu einer Figur der Masse macht, auch wenn der Begriff in "Sein und Zeit" nicht fällt.
Obwohl Safranski den Anspruch hat, keine Geschichte zu schreiben, zeichnen die Auswahl der Autoren und ihre Anordnung schließlich doch eine Entwicklung nach, vom optimistischen Individualismus der Renaissance bis zu den dunkel getönten Analysen der Massengesellschaft, die in die Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts mündet. Safranski endet nicht mit Arendt oder Sartre, die einen Weg in das gesellschaftliche Engagement gewiesen hätten, sondern mit Jüngers "Waldgänger". Dies bestimmt sozusagen die Tonart. Nicht nur auf den "Waldgänger" lässt sich wohl die Aussage beziehen, dass die Gesellschaft darin "mal totalitär und mal bloß konformistisch" erscheine.
Auch für Safranski selbst ist die Gesellschaft eine eher unheimliche Größe. "Noch nie", so schreibt er, war sie "dem Einzelnen so dicht auf den Leib gerückt wie heutzutage und dringt mit ihren digitalen Gespenstern in jeden Winkel der Seele." Allerdings reflektiert sich darin, so wäre gegen Safranski einzuwenden, letztlich nichts anderes als das Paradox der Beschreibung, wie es der von ihm als Kronzeuge angeführte Theoretiker der Singularitäten Andreas Reckwitz zugespitzt fasst: dass sich auch noch die "Verfertigung von Besonderheiten" mittels "allgemeiner Praktiken und Strukturen" beschreiben lässt. Mit einem permanenten Blick auf die aktuellen Trends kann es in der Tat anstrengend werden, ein origineller Einzelner zu sein. Aber vielleicht reicht dagegen schon ein Hauch von Ironie, wenn Sie morgens den Duft der Saison auflegen. SONJA ASAL.
Rüdiger Safranski: "Einzeln sein". Eine philosophische Herausforderung.
Carl Hanser Verlag, München 2021. 285 S., geb.
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