Für ein Tagebuch fehlt ihm die Zeit. Serhij Zhadan ist Tag und Nacht im beschossenen Charkiw (Ost-Ukraine) unterwegs - er evakuiert Kinder und alte Leute aus den Vororten, verteilt Lebensmittel, koordiniert Lieferungen an das Militär und gibt Konzerte. Die Posts in den sozialen Netzwerken dokumentieren seine Wege durch die Stadt und sprechen den Charkiwern Mut zu, unermüdlich, Tag für Tag.
Die Stadt leert sich. Freunde kommen um. Der Tod ist allgegenwärtig, der Hass wächst. Als die Bilder von Butscha um die Welt gehen, versagt auch Zhadan die Stimme. »Es gibt keine Worte. Einfach keine. Haltet durch, Freunde. Jetzt gibt es nur noch Widerstand, Kampf und gegenseitige Unterstützung.«
Nachrichten vom Überleben im Krieg: Das Buch ist eine Chronik der laufenden Ereignisse aus der Ukraine, das Zeugnis eines Menschen in der Ukraine, der während des Schreibens in eine neue Realität eintritt und sich der Vernichtung von allem entgegenstemmt. Kein einsamer Beobachter, sondern ein aktiver Zivilist in einer Gesellschaft, die in den letzten acht Jahren gelernt hat, was es bedeutet, gemeinsam stark zu sein.
2022 wird Serhij Zhadan zum Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gewählt. In der Begründung heißt es: »Wir ehren den ukrainischen Schriftsteller und Musiker für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft. In seinen Romanen, Essays, Gedichten und Songtexten führt uns Serhij Zhadan in eine Welt, die große Umbrüche erfahren hat und zugleich von der Tradition lebt. Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten. Nachdenklich und zuhörend, in poetischem und radikalem Ton erkundet Serhij Zhadan, wie die Menschen in der Ukraine trotz aller Gewalt versuchen, ein unabhängiges, von Frieden und Freiheit bestimmtes Leben zu führen.«
Besprechung vom 08.10.2022
Chronik einer belagerten Stadt
Das neue Buch des Friedenspreisträgers Serhij Zhadan "Himmel über Charkiw" ist ein Zeugnis davon, wie der Krieg Menschen verroht.
Die Kosakenfrisur mit der Strähne, die sich Serhij Zhadan am 15. März rasieren lässt, mitten im Krieg, mitten in Charkiw, ist noch zu erkennen, als wir uns Anfang Oktober im herbstlichen Frankfurt treffen. Der Mythos der Kosakenkrieger ist für die Ukraine in ihrem Befreiungskampf ein wichtiges Symbol. Gegenüber vom Hotel des Schriftstellers, der am 23. Oktober mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wird, befindet sich das ukrainische Konsulat. Blumen liegen vor dem verschlossenen Tor, blau-gelbe Kinderzeichnungen und ein Bild der heiligen Maria. "Auch wenn Krieg herrscht, die Hipster-Friseure haben geöffnet", hatte Zhadan an jenem Märztag bei Facebook gepostet mit einem Foto von sich. Anderthalb Stunden zuvor hatten noch die Sirenen über der Stadt geheult. Dass Charkiw an diesem Morgen "sonnig und leer" sei, notierte Zhadan. Drei Wochen ist es zu diesem Zeitpunkt her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Dieser Frühling in Charkiw tut weh.
Wie die Sprache mit dem Krieg ringt, darüber schreibt Serhij Zhadan nicht nur im Nachwort zu seinem neuen Buch "Himmel über Charkiw", das am Montag bei Suhrkamp erscheint. Die Sammlung von Facebook-Posts, die Zhadan seit geraumer Zeit verfasst und das Buch von Kriegsbeginn an versammelt, ist selbst der Beleg dafür. Das ist die Realität von Serhij Zhadan nicht erst seit dem 24. Februar, denn in Charkiw in der östlichen Ukraine "herrscht seit acht Jahren Krieg, der Westen hat es nur nicht wahrhaben wollen". Ernst und auf den Moment fokussiert sitzt der Achtundvierzigjährige in der geschäftigen Hotellobby. Er ist Schriftsteller und muss doch die Literatur, zumindest jetzt, beiseitelassen. Weil ihm angesichts des Kriegs die Sprache fehlt. Es ist, "als stocke dir der Atem, als bekämst du keine Luft, sodass die Worte verloren gehen, auseinanderfallen, unpassend erscheinen". Die Wut und das Gefühl der Ohnmacht sind überwältigend angesichts des Überfalls auf sein Land, aber auch, weil er kein Instrumentarium hat, das ihn begreifen lässt, was geschieht.
Die Realität von Zhadan übersteigt die Vorstellungskraft, und die Kriegswirklichkeit hat die fiktionale Welt verdrängt. So ist der Untertitel des Buchs "Nachrichten vom Überleben im Krieg" wörtlich zu nehmen. In "Himmel über Charkiw" verbietet sich, wofür dieser Autor berühmt ist: Metaphorik, Ambivalenz, Humor. Hier reihen sich vielmehr raue, ungeschliffene, aus dem Moment heraus verfasste Skizzen aneinander, die man in ihrer lakonischen Dringlichkeit atemlos verfolgt. Am Tag des Kriegsausbruchs berichtet er, wie er mit seinen Bandkollegen den ganzen Tag unterwegs war. "Jetzt kommen wir heim, denn hier ist unser Zuhause, hier sind unsere Familien, und hier gehören wir hin." Vier Tage später ist der Krieg in der Stadt. "In Charkiw kracht es", schreibt Zhadan, "Freunde, geht nicht ohne Ausweis auf die Straße. Geht besser überhaupt nicht ohne Not raus." Am 1. März warnt er: "Charkiwer, gebt acht. Wenn ihr könnt, helft denjenigen, die Hilfe brauchen. Nahrung, Medikamente, Transportmöglichkeiten."
Zusammengenommen ergeben die Mitteilungen, Fotos und geteilten Links eine Chronik des Krieges und mehr noch eine Chronik der Strategien des Überlebens. Wie die Fokussierung zu emotionaler Verhärtung führt, auch das tritt hier zutage. Da ist bald kein Raum mehr für Ambivalenz, da gibt es irgendwann nur noch "die" und "wir". Da schreibt der aktuelle Friedenspreisträger, der in seinen Romanen mit literarischen Metaphern und vielschichtigen Bildern gegen eine eindeutige Perspektive angeht wie kaum ein anderer, nunmehr so: "Tod den russischen Invasoren", immer wieder auch "Die Russen sind Barbaren" oder "Monster". Was sich aus der Situation heraus erklären und auch begreifen lässt angesichts von tatsächlich monströsen Kriegsverbrechen der Invasoren, offenbart doch zugleich, dass alles Schreiben in einer solchen Situation ständig Gefahr läuft, eine in sich wohnende Eskalation in der Sprache mitzugehen. Denn aus den russischen "Barbaren" oder "Monstern" wird in Zhadans Blogeinträgen irgendwann "Unrat, der aus dem Osten über uns hergefallen ist" und der "zurück über die Grenze und ins Nichts geworfen" werden soll.
Menschen sind die Invasoren für den ukrainischen Autor spätestens an dieser Stelle nicht mehr. Begreifen lässt sich das überhaupt nur aus der Binnenlogik des Kriegs. Solche Worte, gewählt von einem, der um das Gewicht von Worten weiß, machen klar: Nach dem Ende des Krieges wird es unabsehbar lange brauchen, bis heilen kann, was er zerstört hat.
"Wir halten stand. Sie können unsere Häuser zerstören, aber nicht unsere Verachtung für sie. Unseren Hass." Wie soll man ihn auch nicht verstehen, diesen Hass, der sich Bahn bricht. Angesichts gefallener Soldaten, die Zhadan persönlich kannte. Angesichts der Frauen, die er zu den Beerdigungen ihrer Männer begleitet. Angesichts der Freunde, die als Zivilisten auf der Straße erschossen werden. Angesichts der Angst, die ukrainische Kinder aushalten müssen. Butscha, bombardierte Krankenhäuser, Kindergärten und Museen zerstört, das alles verarbeitet dieser Nachrichtenstrom in einem Buch, das nicht aus der distanzierten Beobachterposition heraus geschrieben ist, sondern aus unmittelbarer Teilhabe. Zhadan erfährt am eigenen Leib, wie er in Frankfurt erzählt, dass die Russen gekommen sind, um die ukrainische Identität zu zerstören, ihre Kultur, ihre Bildung. Während er das sagt, sitzt er reglos da. Sicher ist er auch müde, weil er am Vortag während einer Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung ausgiebig über den Krieg gesprochen hat und später am Abend mit seiner Band "Zhadan i Sobaky" ein Konzert gegeben hat. In Wahrheit hat ihn die Musik wohl eher abgelenkt von dem, was ihn seit Monaten nicht mehr loslässt.
Zhadan konnte schon eine Woche nach Kriegsausbruch nicht mehr lesen und schreiben. Die Texte zerfielen vor seinen Augen, sich zu konzentrieren wurde angesichts der Nachrichten unmöglich. "Der Krieg verschiebt die Perspektive", Metaphern werden angesichts zerschossener Wohnhäuser obszön und jegliche Literarisierung von Wirklichkeit für diesen großartigen Schriftsteller zweifelhaft. So kann er, statt Realität in Literatur zu verdichten, momentan einfach nur benennen, was er sieht, was er hört, was er denkt, er schreibt es hastig auf, ungeordnet, ohne literarisches Netz und doppelten Boden. Er ist im Krieg, und er tut alles, um mit seinen Mitteln den Widerstand zu organisieren
Charkiw, die Stadt, in der er seit seiner Studienzeit lebt, hat er auch in den schlimmsten Phasen immer nur kurzfristig verlassen, für Auftritte wie jetzt in Frankfurt oder zur Buchmesse. Zhadan ist der Autor, dessen Romane "Internat" von 2017 oder "Die Erfindung des Jazz im Donbass" (2010) man lesen sollte, um zu verstehen, was in der Ukraine passiert. Tatsächlich besitzt manche Literatur diese erstaunliche Fähigkeit, als Speicher nicht bloß zurückzublicken, sondern Wissen auch zu antizipieren. Darum geht es im "Himmel über Charkiw" naturgemäß nicht mehr. Sondern darum, Medikamente für Krankenhäuser zu beschaffen, technische Geräte für die Front, Lebensmittel für die Alten, Kugelschreiber, Zahnpasta oder Filzstifte für die Kinder, die seit Monaten in der U-Bahn leben müssen. Vor allem aber zeigt "Himmel über Charkiw", wie Zhadan als Kommunikator agiert. Wie er über die sozialen Medien jeden Tag aufs Neue Verbindungen herstellt, um zu helfen, um sich auszutauschen, zu trösten, ermutigen und der Welt zu zeigen: "Wir geben nicht auf."
Wenn das Schreiben dem Tod widerspricht, wie er schreibt, weil der Wunsch, Gefühle und Bedeutungen festzuhalten sich nicht verträgt mit der Idee von Zerstörung und Vernichtung, so sind diese Nachrichten aus der Kriegszone genau das: ein Einspruch gegen das Verstummen. Entstanden, erklärt er, seien sie aus der Notwendigkeit, Gesichter und Namen, aber auch Stimmungen, Hoffnungen und Enttäuschungen wenigstens skizzenhaft festzuhalten. "Manche dieser Erinnerungen reichen weit zurück: "Ich weiß noch, wie mich Außenminister Steinmeier leicht gelangweilt nach der Lage in der Ukraine befragte", schreibt er über eine Begegnung 2014, die Serhij Zhadan nicht vergessen hat.
Die Notate lassen sich auch als Lebenszeichen für all die anderen da draußen lesen, bei denen der Krieg den Schmerz genauso auftürmt wie bei ihm. Wenn man wie in einer Liveübertragung den Posts folgt, Tag für Tag, Eintrag für Eintrag, gerät auch die Stadt zur Konstante, um die herum sich alles schart, in der man sich versteckt, die verwundbar ist und die so sehr geliebt wird von ihren Einwohnern, dass sie sie nicht verlassen. In dieser Timeline wird Charkiw zur Unbezwingbaren, zu einer Stadt, die leben will und nicht aufgibt.
Die Studentenstadt und Schauplatz der ukrainischen Avantgarde hat Zhadan schon früher zur Protagonistin gemacht. In der umkämpften Metropole kennt er jede Straße und registriert nun, wie sich nicht nur die Topographie durch den Krieg verändert, sondern immer wieder beschreibt er die Wolken über der Stadt in ihren stets neuen Formationen.
Der Himmel ist immerzu präsent. Und wird darüber doch so etwas wie eine Chiffre für all das, was über dieser Stadt hängt. Weil dieser Himmel nicht mehr nur Licht und Wärme bringt, sondern Raketen und also Tod und Zerstörung. Während seines letzten Bucheintrags vom 24. Juni ist es plötzlich eigentümlich ruhig in der Festungsstadt. "Es wird ganz und gar abendlich. Vor uns die Nacht. Absolute Stille. Wie sehr wünscht man sich, dass es bleibt. Ruht euch aus, Freunde. Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher." Sein Optimismus scheint unerschütterlich. SANDRA KEGEL
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