»Berührender, klüger, kurz: besser kann ein Roman über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier kaum sein. « Frankfurter Allgemeine Zeitung
Was als wissenschaftliche Mission beginnt, entwickelt sich bald zu einer obsessiven Freundschaft.
1835: Der junge Zoologe Gus wird vom Naturhistorischen Museum in Lille nach Island geschickt, um die Fauna des Nordatlantik zu studieren. Dort wird er Zeuge eines Massakers an einer Kolonie von Riesenalken, einer pinguinähnlichen Vogelart.
Gus kann einen der Vögel retten, ohne zu ahnen, dass er gerade das letzte Exemplar seiner Art geborgen hat. Er nennt ihn Prosp - und zwischen dem neugierigen Forscher und dem anfänglich misstrauischen Tier entsteht eine tiefe Freundschaft. Gus wird nach und nach klar, dass er womöglich etwas Einzigartiges und Unvorstellbares miterlebt: das Aussterben einer Spezies.
Was bedeutet es, ein Tier zu lieben, das es nie wieder geben wird? Gus entwickelt eine Obsession mit dem Schicksal seines gefiederten Freundes - eine Obsession, bei der alles andere auf der Strecke bleibt . . .
»Zum ersten Mal hat mich ein Charakter wirklich berührt, der nicht durch Sprache kommunizieren kann, der nicht menschlich ist. Ein beeindruckender Roman! « Michel Houellebecq
Besprechung vom 05.10.2023
Wie ist es, ein Riesenalk zu sein?
Ein Haustier für Fortgeschrittene: Sibylle Grimbert schildert die Beziehung zwischen einem Forscher und einem vom Aussterben bedrohten Vogel.
Prosp war sein Arzt und Versorger geworden", heißt es einmal. An anderer Stelle ist zu lesen: "Es lag sicherlich an seinem beherzten Wesen, dass Prosp sich von seinen Verletzungen erholte, auch den seelischen." Etwas später: "Prosp weinte." Nun muss man wissen, dass Prosp kein Mensch, sondern ein Vogel ist. Genauer, ein Riesenalk. Die flugunfähige Art gilt seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als ausgestorben. Zwei Exemplare wurden 1844 auf der südwestlich von Island gelegenen Insel Eldey getötet. Sie unternahmen den letzten sicher dokumentierten Brutversuch der Spezies. Acht Jahre darauf soll ein Individuum in der Nähe von Neufundland gesichtet worden sein. Seither ist der Vogel nie wieder irgendwo aufgetaucht.
Die französische Autorin und Verlegerin Sibylle Grimbert hat dem Riesenalk mit "Der Letzte seiner Art" einen historischen Roman gewidmet, der, eingedenk der Prämisse, in mancher Hinsicht hätte misslingen können: Der Zoologe Gus reist nach Island, erlebt, wie wild gewordene Matrosen unter den dort lebenden Riesenalken ein Massaker anrichten, fischt einen der Vögel aus dem Wasser, nimmt ihn mit nach Hause, nennt ihn Prosp (Kurzform von Prosperous), führt ihn regelmäßig an der Leine zum Meer, wechselt die Domizile mit ihm, studiert ihn, mag ihn, fühlt mit ihm und ist ihm am Ende gar so zugetan, dass sich der Alltag nur noch um das Tier dreht, worunter wiederum Frau und Kinder zu leiden haben.
All das schildert Grimbert in einem von Sabine Schwenk elegant ins Deutsche übertragenen Ton, der auch jene Aspekte des Plots ausstellt, die bei weniger sattelfesten Autoren schnell zur Lehrstunde hätten werden können. Dazu gehören etwa Erwägungen zur anthropologischen Differenz, also der Annahme, es gebe einen grundlegenden Unterschied zwischen Mensch und Tier. Grimberts personaler Erzähler teilt zwar mit, was sich ereignet, lässt das Geschehen dabei aber fortwährend durch Gus' Wahrnehmungsfilter laufen.
Wenn es heißt, der Alk leide unter seelischen Verletzungen, wenn von "Kummer" und "Scham" eines gedemütigten Tiers die Rede ist, handelt es sich nicht um eine naive Vermenschlichung seitens der Autorin. Vielmehr bringt sie uns mithilfe der gewählten Erzählinstanz die Haltung des Protagonisten näher. Der Inhalt hängt also an der Form. In der dargestellten Welt verhält es sich umgekehrt: Fehlt der Inhalt in Gus' Leben, gerät der Protagonist aus der Form. Sind seine Frau und Prosp nicht in der Nähe, "klebte etwas Ungenaues, Hingepfuschtes an jedem seiner Schritte; er empfand sich als unfertig".
Regelmäßig klopft der Erzähler Kategorien ab, mit denen man die Figurenkonstellation beschreiben könnte. Gus und Prosp seien beispielsweise weder durch "Liebe noch Freundschaft" miteinander verbunden, ebenso wenig durch eine "wie auch immer geartete Form von geheimem Einverständnis. Nein, Gus fühlte sich verantwortlich." Was er zunächst nicht wahrhaben will, wird im Laufe des Buchs zur Gewissheit - der Riesenalk stirbt aus. Unser Planet, so die Überzeugung des Helden, sei ein "Ort der Fülle", und die "Harmonie in der Welt des Lebendigen ließ nicht zu, dass hier auf Erden etwas ausgelöscht wurde".
Diese Ansicht verliert ihre Blauäugigkeit, sobald man bedenkt, dass die Handlung 1834 einsetzt, zu einer Zeit, da Darwin noch an Bord der Beagle unterwegs war. "Über die Entstehung der Arten" wurde 1859 veröffentlicht; Gus und seine Zeitgenossen haben demnach keine Ahnung davon, dass es die Evolution gibt. Ob eine Art für immer verschwinden kann, ist eine Debatte, die in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vor allem Paläontologen führten.
Das Thema des Romans lädt dazu ein, ihn als Argumentationsplattform für die gute Sache zu benutzen. Der Mensch richtet die Erde zugrunde, er beutet ganze Landstriche aus und ist für das sechste Massenaussterben verantwortlich. Entsetzlich, gewiss, aber kein Grund für ästhetisch verpackte Moralphilosophie. Die Autorin achtet denn auch darauf, ihre Geschichte nicht in den Dienst einer Sache zu stellen, in deren Rahmen ihre eigene, gleichermaßen nüchterne und emphatische Sprache von gängiger Empörungsdiktion verunreinigt würde. Insofern geht der Klappentext fehl, wenn er hervorhebt, der Roman sei ein "bewegender Kommentar zu einer der wichtigsten Debatten unserer Zeit".
Das heißt allerdings nicht, das Personal verhalte sich gleichgültig oder mache sich keine Gedanken über die Umwelt. Das ganze Buch ist eine Reflexion über die Rolle des Menschen in der Natur, über die Möglichkeit, die Welt durch die Augen eines Vogels zu sehen, über Kommunikation und Sprache bei Riesenalken, über den Geist der Tiere, der sich den Differenzialisten zufolge wesentlich von dem des Menschen unterscheidet, wogegen die Assimilationisten Einspruch erheben und behaupten, etwaige Unterschiede seien rein quantitativ. "Der Letzte seiner Art" steckt voller Fragen der Tierphilosophie, und doch kommt bei der Lektüre nie das Gefühl auf, einem Seminar beizuwohnen. Berührender, klüger, kurz: besser kann ein Roman über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier kaum sein. KAI SPANKE
Sibylle Grimbert: "Der Letzte seiner Art". Roman.
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk. Eisele Verlag, München 2023. 256 S., geb.
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