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Besprechung vom 10.08.2021
Kultureller Kontinent
Romantik als europäisches Phänomen in zwei Studien
Als 2007 Rüdiger Safranskis vielbeachtetes Buch "Romantik - Eine deutsche Affäre" erschien, forderte der Untertitel, wie zu erwarten, mancherlei Kritik heraus. So ganz und gar deutsch sollte diese Bewegung gewesen sein? Wo blieben da, bitte schön, die Franzosen und Engländer? Der Autor machte mit solchen Mängelrügen kurzen Prozess. "Kritiken, die einfach sagen, das und das fehlt noch", ließ er in einem Interview verlauten, "sind mit die fantasielosesten Kritiken, mit denen man nun gar nichts anfangen kann."
Als solcherart Auto-Immunisierter dürfte er es mit Gelassenheit hinnehmen, dass sein Name im Register zweier soeben erschienener Bücher, die auf der europäischen Dimension der Romantik bestehen, durch Abwesenheit glänzt. Stefan Matuschek ("Der gedichtete Himmel - Eine Geschichte der Romantik", bei C. H. Beck) gönnt ihm keine Zeile, Rüdiger Görner ("Romantik - Ein europäisches Ereignis"), von Reclam als "längst fällige Gegenthese zu Safranski" beworben, immerhin eine Fußnote, die seinen Ansatz als "verfehltes Konzept" abwertet. Ist es neuerdings kritischer Usus, zentrale Vorgänger in einem Orwell'schen Gedächtnisloch verschwinden zu lassen?
Wie dem auch sei, es spricht einiges dafür, solche verkaufsfördernden Gegensätze durch ein Sowohl-als-auch zu ersetzen. Als philosophisch-literarische Kenner der deutschen Genieepoche können hierzulande ohnehin nur wenige mit Safranski mithalten, wenn es gilt, das spezifisch Deutsche der Romantik zu erkennen und zu benennen. Dass er Wortlust, Enthusiasmus und eine nachdrückliche Ironie mit seinen Romantikern teilt, ist dabei durchaus von Vorteil. Und sein Untertitel lässt etwas von den zwielichtigen Folgen der "Affäre" ahnen.
Andererseits: "Europäischer gestimmt war man nie als in der (frühen) Romantik, dieser Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln und Themen", so Görner. Am übernationalen Charakter einer alle Künste umgreifenden, philosophiegesättigten romantischen Bewegung kann es keinen Zweifel geben, auch wenn manche Verflechtungen nicht auf der Hand liegen, und wenn es, etwa in der Literatur unserer Nachbarn, noch einiges zu entdecken gibt. Hier sind Germanisten mit komparatistischem Horizont gefordert, wie Matuschek in der Romantiker-Stadt Jena oder Görner, der im fernen London lehrt. Die alte binnendeutsche Unterscheidung zwischen Klassik und Romantik verliert vor dem europäischen Horizont deutlich an Trennschärfe.
Beide Autoren wenden sich betont essayistisch an ihr Publikum. Textproben aus der Fremde werden leserfreundlich eingedeutscht (was der Lyrik als führender Gattung der Zeit nicht immer gut bekommt). Da die Vermessung eines ganzen kulturellen Kontinents auf dem Programm steht, ergeben sich komplexe Fragen der Grenzziehung: Welche Nationen, welche Künste werden eingeschlossen, wie lässt sich eine thematische Gliederung mit dem geschichtlichen Narrativ verbinden, wie das Verhältnis von Zentrum und Peripherie gewichten? England und Frankreich, das ist klar, sind neben Deutschland die Kernländer der Romantik. "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es", lautet die bekannte Formel des Novalis für die poetische Rückverwandlung einer rational entzauberten Welt.
Fast mit den gleichen Worten drückt Coleridge das dichterische Streben seines Freundes Wordsworth aus, dem es darum gegangen sei, "den Dingen des gewöhnlichen Lebens den Reiz der Neuheit zu geben und damit ein Gefühl des gleichsam Übernatürlichen zu erzeugen". Der unendliche Schein, das gleichsam Übernatürliche: Das ist die "Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln" (Safranski), eine jenseitige Sehnsucht, die sich selbst unter Illusionsverdacht stellt. Matuschek verwendet für diese tiefironische Konstellation einen Begriff aus dem Bereich der optischen Täuschung: die Kippfigur, die den Betrachter einlädt, in einem Bild, je nach Blickwinkel, das vordergründig Dargestellte und/oder dessen Gegenteil zu erkennen; also etwa das Göttliche in der Natur und das Naturhafte im Göttlichen - die schöpferische Fantasie als säkulare Offenbarung.
Die metaphysische Kippfigur sei kein Generalschlüssel zur Romantik, betont der Autor, aber gerade dazu scheint er sie zu benützen, indem er permanent ihren Einsatz als die epochale Innovation feiert. Im Übrigen illustriert er die transzendentale Sehnsucht als Grundzug der Romantik an zahlreichen Beispielen aus Lyrik und Prosa mit den Mitteln einer Komparatistik, bei der Vertrautes und Fremdes, textuelle und bildende Kunst, sich gegenseitig erhellen. Es ist ein notwendig selektives, auch assoziatives Verfahren, das manchmal mit seinen zeitlichen Turbulenzen die im Untertitel versprochene Geschichte der Romantik aus dem Takt zu bringen droht.
Doch die historischen Bezüge von der Französischen Revolution bis zur chauvinistischen Wende der deutschen Romantik gegen Napoleon bleiben klar markiert. Auch die Visionen der schwarzen Romantik kommen zu ihrem Recht, denn Matuscheks "gedichteter" Himmel ist wie der "geteilte" von Christa Wolf, der bei der Namensgebung Pate stand, antithetisch gebaut. Am Ende geht es mit Baudelaire und Rilke etwas eilig in die Moderne, und Heinrich Heine darf (wie schon bei Safranski) im Bild des deutschen Donners Hitlers apokalyptische Romantik prophezeien: "Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher . . . und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht."
Schade, dass diese nützliche und ertragreiche Erweiterung des romantischen Horizonts im Stil einer Anfängervorlesung daherkommt, die dem Publikum gern Altbekanntes erklärt und ex cathedra ihre Zensuren verteilt: "geht in die falsche Richtung", "trifft ins Schwarze", "Heine hat recht. Doch übertreibt er . . ." Und dann dieses Schlusswort zur romantischen Transzendenz : "Was man nicht genau wissen kann, kann man sich vorstellen. Es ist eine verbreitete Gewohnheit, das zu tun." Eher ins Schwarze traf da wohl T. E. Hulme, der die Romantik aus der Sicht einer ernüchterten Moderne kurzerhand als spilt religion, verschüttete Religion, definierte.
Görners vielseitige "Annäherung an das Langzeitereignis europäische Romantik" bietet für stilistisches Unbehagen wenig Anlass. Sie beginnt mit fünf in die Thematik einstimmenden Préludes und widmet auch sonst der romantischen Musik ihre besondere Zuwendung, bis hin zum Ballett als symbolischer Kunstform. Es geht ihm dabei um einen empathischen Zugang zum Thema, gerade in Zeiten der Ernüchterung: "Man muss das Romantische quasi an Leib und Seele erfahren haben." Ein großes Überblickswissen wird auf gut romantische Art durch persönliche Einfühlung beglaubigt, etwa wenn der Autor in Keats' Sterbezimmer zu Rom Einkehr hält oder zu Leipzig in dankbarer Erinnerung an Philipp Reclams Verlagsgründung 1828 über die Stiftung von Lesergemeinschaften und Künstlergruppen (Serapionsbrüder, Davidsbündler) meditiert.
Seinen kulturellen Kontinent vermisst Görner, von der Chronologie unbeengt, weitgehend nach Gattungskriterien. Als historische Rahmung dienen ihm zwei deutsch-englische Begegnungen der besonderen Art: einmal, im nasskalten Winter 1798, die Harzreise der Geschwister Wordsworth mit ihrem Freund Coleridge, ein missglückter Brückenschlag zwischen zwei Kernländern der Romantik, und dann Wolfgang Hildesheimers historischer Roman "Marbot", mit einem europäisch gesinnten Kunst- und Literaturliebhaber als Helden, der endlich Weimar und den Lake District zusammenführt und so auf fiktionalem Gebiet das leistet, was die Wirklichkeit leider schuldig blieb.
Immer wieder begibt sich Görner auf reizvoll ungewöhnliches Terrain, etwa wenn er die romantische Erzählkunst unserer Nachbarn nicht nur mit den üblichen Kandidaten, sondern auch an aparten Texten von Andersen und Puschkin illustriert. Besonders angetan hat es ihm die Spiegelung der Künste in den jeweils anderen Medien, also etwa der Musik in der Erzählprosa oder der Malerei in der Dichtung. Hier, wie in vielem anderen, steht ihm E. T. A. Hoffmann, der international erfolgreichste deutsche Romantiker, besonders nahe. Gern vertraut man sich Görners kundiger Führung über die highways und byways der europäischen Romantik an und nimmt ein gelegentliches Informationsdickicht willig in Kauf. Nur wenn er auf "Heinrich von Afterdingen" als dem ursprünglichen Titel des Novalis besteht und Tiecks wohltätige Emendation zu "Ofterdingen" verwirft, wird man ihm die Gefolgschaft verweigern müssen.
Beide Autoren am Ende zu fragen, wo sie denn Burkes Konzept des Erhabenen gelassen haben, Rousseaus "Bekenntnisse" oder den epochalen deutschen Beitrag zu einer neuen Theorie und Praxis der Übersetzung, wäre undankbar, und zudem ein Verstoß gegen das Safranski'sche Interdikt (siehe oben). Unabschließbarkeit gehört nun einmal, da sind sich Matuschek und Görner einig, ganz wesentlich zum Projekt der Romantik. WERNER VON KOPPENFELS.
Rüdiger Görner: "Romantik". Ein europäisches Ereignis.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 360 S., geb., 28,- Euro.
Stefan Matuschek: "Der gedichtete Himmel". Eine Geschichte der Romantik.
Verlag C. H. Beck, München 2021. 400 S., geb.
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