Eben noch kämpfte Alois Pokora im Weltkrieg. Dann erwacht er im Krankenhaus in Berlin - und die Welt ist eine andere: das Jahr 1918, der Kaiser geflohen, die alte Ordnung zerbricht. Der Bergmannssohn Alois, der Erste in der Familie mit Schulbildung, sehnt sich nach seiner Liebe Agnes - lässt sich aber bald von der soghaften neuen Freiheit erfassen, geistig, revolutionär, auch erotisch. Er gerät in die Berliner Halbwelt, schult für die dubiose «Baronin» eine Kampftruppe, trifft Rosa Luxemburg. Nach einer Schießerei mit Kaisertreuen rund ums Berliner Schloss kann er gerade noch heim ins verwunschene Schlesien flüchten. Wo sich ebenfalls alles verändert hat. Unerwartet muss Alois sich der eigenen Herkunft stellen - und steht endlich Agnes gegenüber. Doch Alois ist zwischen alle Fronten geraten.
Mit weltmalerischer Wucht erzählt Szczepan Twardoch vom Weltkrieg und vom umstürzlerischen Berlin mit seinen Kaputten, Geschlagenen und den feierwütigen Überlebenden, den Umbrüchen, die bald ganz Europa erfassen. «Demut» ist ein gewaltiger Roman über einen Mann im Strudel der Zeit, der zwischen Emanzipation und Selbstzweifel steht und in einer explosiven, ungeheuer freien Epoche seinen Weg sucht.
Besprechung vom 26.02.2022
Sehnsucht nach Agnes
Aus Tarantino wird Walter Scott: Szczepan Twardochs Geschichtsroman "Demut"
Szczepan Twardoch, in dessen Romanen sich ein Hals jäh zur Blutspritze und ein Gesicht zur bläulich-schwarzen Masse verwandeln kann, gilt als Tarantino der polnischen Literatur. Die Etiketten, unter denen sein Werk in Deutschland zum Teil vermarktet wird, haben diese Wahrnehmung befördert. "Król" (der König), ein von Isaak Babels Odessa-Texten inspirierter Titel über einen jüdischen Warschauer Gangsterboss, mutierte zum "Boxer"; aus dem schlichten "Królestwo" (Königreich) des Folgebandes wurde auf Deutsch "Das schwarze Königreich". "Drach" blieb immerhin "Drach" und "Morfina" "Morphin". Nachvollziehbar ist hingegen die Metamorphose, die nun der Titel von Twardochs jüngstem Roman auf dem Weg ins Deutsche durchlaufen hat. Auf Polnisch heißt er "Pokora" - wie sein Protagonist. Doch mit diesem Titel bliebe hierzulande der Sinn des Namens verborgen: "Pokora" bedeutet Demut. Und dieser Name ist Programm.
Denn der Mann namens Demut bezieht in einem fort Prügel: vom Vater, einem zornigen schlesischen Bergmann, mit dem Gürtel aufs blanke Gesäß; danach in sadistischer Regelmäßigkeit von einem Sadisten im Gymnasium; anschließend im Konvikt, wo er demselben Schläger wiederbegegnet. Zu dessen Routinen gehört es, sein Opfer bellen zu lassen; einmal nutzt er Pokora auch als Urinal. Wenn der Gepeinigte beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs in die Offizierslaufbahn wechselt, dann vor allem aus diesem Grund: "Nie mehr, niemand sollte es wagen, mich mit der Faust zu schlagen."
Seine Leutnantswürde wird erschüttert, als ihn in den Schützengräben von Flandern ein Schrapnell am Helm erwischt. Mehr noch erschüttert ihn die dominante Agnes, eine Venus im Seidenschlafrock. Wenn Pokora artig ist, darf er ihr kniend das Füßchen küssen. Spurt er nicht, setzt es Ohrfeigen. Der Mann ist offenbar von Kopf bis Fuß auf Hiebe eingestellt - und hat denn auch, so lässt uns Twardoch wissen, in Berlin während der Novemberrevolution eine flüchtige Begegnung mit der jungen Marlene Dietrich.
Kein Zweifel: Pokora ist ein Masochist. Und zugleich ein Mitläufer, ein Opportunist, ein ewig gedemütigter Pícaro, der kurze Machtmomente genießen darf - und wieder verspielt. Sein Leben ist eine einzige große Bewegung des Abduckens vor Schlägen, die er gleichzeitig zwanghaft sucht. Dabei beginnt es verheißungsvoll: Aufgrund seiner Begabung wird der junge Alois, Jahrgang 1891, von einem Pfarrer unter die Fittiche genommen und damit dem düsteren Schicksal eines Grubenarbeiters entrissen. Schule, Konvikt, Philosophiestudium in Breslau, preußische Offizierslaufbahn, zwei Eiserne Kreuze, Ehe, Vaterschaft. Das könnten Stationen eines Aufstiegs sein, wären da nicht die anderen Punkte in Pokoras Biographie, die sich zu einer wirren, immer steileren Abwärtskurve verbinden: Schützengraben, Kopfverletzung, erotische Irrungen im Nachkriegsberlin, Kontakte zum Spartakus und zu den Freikorps, Waffenhandel mit den oberschlesischen Aufständlern, Mitgliedschaft in der DNVP. Die beiden Kurven verlaufen im Zickzack, kreuzen sich immer wieder, und ihre Schnittpunkte sind hautnahe Berührungen mit dem Tod.
Im Zickzack treibt es diese menschliche Billardkugel auch über die Landkarte Europas. Selbst seine Sprache ist ein ständiges Hin und Her. Deutsch, Polnisch, Schlesisch, Wasserpolnisch - das sind die Eckpunkte, zwischen denen Lojzik Pokora alias Alois Demut herumgejagt wird. Die Frage der linguistischen Zugehörigkeit ist ein Dauerthema des Romans und seines Autors. Twardoch stammt aus derselben oberschlesischen Landgemeinde, in der er seinen Antihelden zur Welt kommen lässt.
Das Dilemma des Underdogs angesichts wechselnder Loyalitätsforderungen, das Lavieren zwischen verfeindeten Lagern, der opportunistische oder erzwungene Frontenwechsel, kurzum: Das meiste, womit Pokora zu kämpfen hat, gehört ins Repertoire des historischen Romans. In "Demut" steckt mehr Walter Scott als Tarantino. Das Grundmuster der Gattung wird durchdekliniert, mit einer Prise Dickens: Begegnungen eines Unbedeutenden mit den Größen der Zeit, wundersames Auftauchen alter Bekannter im Augenblick der Gefahr, überraschend aufgedeckte Verwandtschaftsbande, von denen keiner etwas geahnt hat.
Das literarische Enfant terrible Twardoch hat sich hier brav an seine Schulaufgaben gesetzt, das Geschichtsbuch und den Atlas gepaukt und ein Zeitpanorama vorgelegt, das passagenweise ein wenig schülerhaft anmutet. Wenn Twardoch die Topographie von Berlin beschreibt, könnte man meinen, er bereitete sich auf die Taxifahrerprüfung vor. Der Genius Loci ist aber nicht durch ein bloßes Netz von Straßennamen und Wahrzeichen einzufangen, man muss ihm atmosphärisch dichtere Fallen stellen. Dass Twardoch diese Kunst beherrscht, hat er mit "Wale und Nachtfalter" bewiesen, einem Reisetagebuch.
Wenn Twardoch doziert, dass 1917 "die Kontinentalblockade ihre schreckliche und für die Menschen sichtbare Spur in unserer Wirtschaft hinterlassen hatte", dass "Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung" die "alte Losung der Antikriegsdemonstrationen" war oder die Einrichtung einer Bar "im orientalischen Stil gehalten" ist, "wie sie einige Jahre vor dem Krieg sehr modisch war", dann geht es uns wie dem Protagonisten selbst an anderer Stelle: Wir haben "das Gefühl, plötzlich wieder im Geschichtsunterricht am Gymnasium zu sein." Denn hier spricht jemand aus der Perspektive von heute, nicht aus dem Zeithorizont von 1918.
Dass das Buch dennoch fesselt, verdankt sich - neben Olaf Kühls kraftvoller, rhythmisch sicherer Übersetzung - Twardochs Freude am Experiment mit Erzählperspektiven. Seine Warschau-Romane waren aus der Ich-Schau berichtet, in "Drach" erzählte Mutter Erde persönlich, in "Morphin" gesellte sich zu dem Ich eine Instanz, die es mit "Du" ansprach. In "Demut" erprobt Twardoch eine neue Verwendung des Erzähler-Dus, eine, die Jirí Weil in seinem Holocaust-Roman "Leben mit dem Stern" vorgemacht hat: "Demut" ist eine 464 Seiten umfassende Apostrophe an eine abwesende Frau, nach der sich der Icherzähler verzehrt. Fatalerweise ist diese Frau ebenjene dominante Agnes im Schlafrock - nicht die lebenskluge Emma, die ihm ein Kind schenkt. Gelegentlich wird ihm bewusst, was er da treibt. In solchen Epiphanien der Scham tritt er neben sich und spricht von sich in der dritten Person: "Noch eine Ohrfeige, mir brennt Alois Pokoras Gesicht."
In solch perspektivischer Brechung zeigt uns Twardoch ein Kaleidoskop, in dem physische Gewalt, nackte Angst, erotische Demütigungsrituale und kurze, gleich wieder verscherzte Revolten in immer neuen Stellungen durcheinanderpurzeln. Und die Geschichte dieses Mannes namens Demut ist die Geschichte schlechthin: ein endloser, von Traumata befeuerter Wiederholungszwang. "Diese schlesischen Leben und Tode", so hat Twardoch in "Wale und Nachtfalter" gesagt, "wollen mir zu keinem klaren Gesamtbild werden, doch spüre ich, dass sie sich zu einer Ordnung fügen, einem Kosmos, an den ich nicht rühren kann, nicht rühren darf."
In "Demut" hat er sich diesem Kosmos genähert, in einer großen Parabel, die als Gesamtbewegung beeindruckt und nachdenklich stimmt. URS HEFTRICH
Szczepan Twardoch: "Demut". Roman.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 464 S., geb.
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