Besprechung vom 10.03.2022
Der Kochtopf lügt nie
Erstmals vollständig übersetzt: "Babettes Gastmahl"
Der Künstler kann sich sein Publikum nicht aussuchen. Darunter leidet er. So soll es sein.
Diese knappe und wenig gefühlvoll klingende Botschaft, allerdings sorgfältig eingehüllt und kunstvoll zubereitet wie eine Wachtel im Blätterteig, ist eine von mehreren Schlussfolgerungen, die uns eine Erzählung nahelegt, die auf den ersten Blick gemütlich und eher schlicht wirkt, sich dann aber als harte Nuss erweist, die einiges an Überraschung bereithält.
Zunächst einmal: Wer hätte gewusst, dass "Babettes Gastmahl", 1958 im dänischen Original erschienen, 1987 durch die Verfilmung von Gabriel Axel geradezu weltberühmt geworden, noch nie in einer vollständigen deutschen Übersetzung vorlag? Erstmals erschien der Text im Jahr 1950 auf Englisch in einer amerikanischen Zeitschrift namens "Ladies' Home Journal". Acht Jahre später publizierte die Autorin ihre eigene Übersetzung ins Dänische. Sie fiel, wie Erik Fosnes Hansen in seinem reichhaltigen Nachwort zur deutschen Neuausgabe schreibt, deutlich opulenter und "vollkommener" aus. Vielleicht hatte das Magazin Kürzungen verlangt, vielleicht war die Autorin auch mit ihrer ersten Fassung nicht zufrieden gewesen, jedenfalls müssen die Unterschiede zwischen beiden Fassungen laut Fosnes Hansen beträchtlich sein. Während bisherige Übersetzungen ins Deutsche die frühe englischsprachige Version zur Grundlage hatten, griff Ulrich Sonnenberg, der Werke von Herman Bang, Hans Christian Andersen, Knausgard oder Annette Wiborg übertragen hat, zum dänischen Original. Nach der Lektüre lässt sich zweierlei sagen: Es wurde Zeit, und es hat sich gelohnt.
Ist ein Theaterabend ein flüchtigeres Erlebnis als ein Festessen? Das eine wie das andere lässt sich wiederholen, wird aber nie wieder dasselbe sein. Babettes Gastmahl ist beides zugleich: die raffinierte Inszenierung eines Stücks, das die Schauspieler nicht kennen und bei dessen Aufführung sie nicht einmal gewahr werden, dass sie als Schauspieler agieren, und ein festliches Menü, das bei aller Subtilität der Komposition ein brachiales Ziel verfolgt - die Überwältigung aller Sinne. Wer ihr erliegt, wird davongetragen und verwandelt. Er ist ein anderer, wenn auch nur für kurze Zeit.
Tania Blixens Erzählung spielt im Jahr 1885 am äußersten Rand der bewohnten Welt. Die Ortschaft heißt Berlevaag, ein Fischerdorf in der Provinz Finnmark in Nordnorwegen. Hier leben die Schwestern Martine und Philippa, die einstmals strahlend schönen, inzwischen nicht mehr ganz jungen Töchter eines verstorbenen Predigers, der als Probst und Prophet einer frommen und strengen Gemeinde vorstand, die er selbst begründet hatte. Die Landschaft ist weit, endlos, einsam. Es ist eine Landschaft, in der manches verdorrt und manches wächst, vor allem Frömmigkeit, Freikirchen, Pietismus. Hierhin hat es eine junge Französin verschlagen, die am Aufstand der Pariser Kommune teilgenommen und dabei ihren Ehemann und den Sohn verloren hatte. Babette musste fliehen, und auf Anraten und Empfehlung eines berühmten Pariser Opernsängers sucht sie nun Schutz bei Martine und Philippa. Warum ausgerechnet in Berlevaag? Weil in dieser unserer schönen Welt alles möglich ist, wie es gegen Ende der Erzählung heißen wird. Der Satz fällt zwar erst nach dem Essen, aber Tania Blixen, da dürfen wir sicher sein, hatte ihn von Anfang an im Kopf.
Vierzehn Jahre lang lebt Babette als Köchin bei Martine und Philippa, bereitet Stockfisch und Stielmus zu, fügt sich widerstandslos dem frommen und frugalen Lebensstil der Schwestern. Dann gewinnt sie im Lotto: zehntausend Francs, was nach heutiger Kaufkraft ungefähr 50 000 Euro entspricht, wie das Nachwort mitteilt. Was tut sie mit dem Geld? Kauft sie sich ein eigenes kleines Häuschen in Berlevaag? Steckt sie das Geld als Altersvorsorge unters Kopfkissen? Nein, sie veranstaltet ein Gastmahl, zu dem sie nicht nur die beiden Schwestern einlädt, sondern die gesamte, alt und im Alter halsstarrig und nachtragend gewordene Gemeinde. Denn der hundertste Geburtstag des verstorbenen Probstes steht an und soll begangen werden.
Und nun geschehen seltsame Dinge. Babette verreist für vierzehn Tage, danach werden unerhörte Köstlichkeiten per Schiff in Berlevaag angeliefert. Bester Amontillado, eine lebende Schildkröte und Clos Vougeot aus Burgund. In der Küche herrscht geschäftigstes Treiben. Die beiden Schwestern befürchten einen "Hexensabbat", träumen des Nachts schwer, und schließlich, als der Abend des Gastmahls näher rückt, bitten sie die Gemeinde inständig, nur ja kein Wort über das Essen oder die Getränke zu verlieren. Babette ist in all dieser Zeit nahezu unsichtbar.
Dann treffen die Gäste ein, und jetzt, und das ist einer der kleinen, aber ungeheuer wirksamen Kunstgriffe Tania Blixens, wechselt die allwissende Erzählerin die Perspektive. Denn was nun geschieht, sehen wir nicht durch die Augen Babettes, der Schwestern oder ihrer frommen Gäste, sondern durch Augen, die viel von der Welt gesehen haben. Sie gehören General Löwenhielm, der als junger Mann um Martine geworben hatte, sich dann aber für eine Karriere entschied. Er war auf Schlachtfeldern und an Königshöfen gewesen, in Sankt Petersburg und in Paris und sogar im Café Anglais, dem besten Restaurant der Stadt, wo damals eine Köchin arbeitete, die eine Berühmtheit war, eine unvergleichliche Künstlerin, bis sie sich den Kommunarden anschloss, um die Herrschaft jener "bösen und grausamen Menschen" zu beenden, die das Volk unterdrückten und es sich leisten konnten, zehntausend Francs für ein Menü für zwölf Personen im besten Restaurant der Stadt zu bezahlen. Aber diese Menschen sind fort. Babette, die Kommunardin, hat das Stammpublikum von Babette, der Köchin, für immer vertrieben.
"Babettes Gastmahl" ist, wie Erik Fosnes Hansen zu Recht anmerkt, keine Erzählung übers Essen oder die Spitzengastronomie. Es geht um völlig andere Dinge: um verlorene Leidenschaften, um das Gute und die Versuchung zum Bösen, um die Kunst und das Dilemma, dass der Künstler sein Publikum braucht und dazu verdammt ist, es zu lieben, auch wenn er es hasst. Denn er kann es sich nicht aussuchen, wer seine Kunst zu schätzen weiß und wer nicht.
Wie "Out of Africa", das der kenianische Nobelpreiskandidat Ngugi wa Thiong'o als eines der gefährlichsten Bücher über Afrika bezeichnet hat, hat jedoch auch "Babettes Gastmahl" einen bitteren Beigeschmack. Tania Blixen, die Bürgerstochter mit dem Selbstverständnis der Aristokratie früherer Jahrhunderte, lässt Babette einmal noch ihre Kunst zelebrieren. Für diesen einen Abend imaginiert sich Babette ihr altes Publikum, ein Publikum, das, wie sie sagt, dazu erzogen und dazu ausgebildet wurde, ihre Künste genießen und würdigen zu können. Die Verfeinerung der Verfeinerung des Lebens war denen vorbehalten, die durch Stand und Geburt dazu ausersehen waren. Das Gastmahl erscheint als Akt künstlerischer Autonomie, und doch kettet die Autorin ihre Heldin noch in diesem Akt an eine Gesellschaftsschicht, die es nicht mehr gibt. Babette kehrt nicht nach Paris zurück. Für den Rest ihres Lebens lässt Tania Blixen die Köchin Stockfisch und Stielmus zubereiten. HUBERT SPIEGEL
Tania Blixen: "Babettes Gastmahl". Erzählung.
Aus dem Dänischen und kommentiert von Ulrich Sonnenberg, Nachwort von Erik Fosnes Hansen.
Manesse Verlag, Zürich 2022. 115 S., geb.
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