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Besprechung vom 01.11.2024
Kollaboration kannte viele Möglichkeiten
Aus der Sicht der Okkupierten: Tatjana Tönsmeyer legt eine Studie über Gesellschaften unter deutscher Besatzung 1939 bis 1945 vor
Auf dem Höhepunkt der nationalsozialistischen Herrschaftsexpansion im Zweiten Weltkrieg lebten etwa 230 Millionen Menschen unter deutscher Besatzungsherrschaft, die sich von Norwegen bis in die Ägäis und von der französischen Atlantikküste bis zur Ostfront tief in der Sowjetunion erstreckte. Schätzungen gehen von rund 36,5 Millionen kriegsbedingten Toten in Europa zwischen 1939 und 1945 aus, mehr als die Hälfte von ihnen Zivilisten, darunter etwa sechs Millionen Juden. Da die eigentlichen Kriegshandlungen diesseits der Ostfront oft kurz waren, die Besatzung hingegen Jahre andauerte, starben viele dieser Zivilisten nicht auf den Schlachtfeldern, sondern unter deutscher Besatzung.
Zwar gibt es mittlerweile unzählige Spezialstudien zu lokalen Besatzungsregimen, oft geschrieben in den Sprachen der besetzten Gesellschaften, doch eine integrierte, auf nichtdeutschen Quellen basierende Monographie zu diesem wichtigen Thema hat lange gefehlt.
Mit Tatjana Tonsmeyer legt nun eine ausgewiesene Expertin zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs ein Buch vor, das diese Lücke schließt. Inhaltlich baut es auf einem mehrjährigen, von der Leibniz-Gemeinschaft finanzierten Forschungsprojekt auf, in dessen Rahmen auch wichtige Quelleneditionen entstanden sind. Es ist eine empirisch dichte Studie entstanden, deren Stärke und Alleinstellungsmerkmal darin liegt, die Besatzungsgesellschaften in Europa nicht aus der Perspektive der Besatzer, sondern der Sicht der Besetzten zu schreiben und auf nationalstaatlich strukturierte Kapitel zu verzichten. Das hat den Vorteil, dass die Erfahrung der Besetzten ungeachtet aller Unterschiede zwischen West- und Osteuropa thematisch vergleichend als geteiltes europäisches Erbe gedeutet wird. Der chronologische Aufbau des Buches erlaubt es den Lesern, die Entwicklung von Besatzungsgesellschaften von der Okkupation durch die Wehrmacht bis zur Befreiung und die unmittelbare Nachkriegszeit nachzuvollziehen.
Nach einer etwas sperrigen Einleitung nimmt das Buch in sehr viel flüssiger geschriebenen Kapiteln erzählerisch deutlich an Fahrt auf. Gerade der Beginn des Krieges wurde von vielen in den Ländern, die von der Wehrmacht überrannt wurden, ähnlich empfunden. So schrieb die Niederländerin Mirjam Bolle 1940 ihrem Verlobten in Palästina aus dem bombardierten Amsterdam von einer Erfahrung, die sie mit vielen Menschen in den ersten Kriegswochen teilte: "Morgens um fünf Uhr: Luftalarm. Du weißt nicht, was das heißt. Es ist, als wimmerte die Stadt." Neben Bombardierungen aus der Luft teilten viele Menschen in den ersten Wochen des Krieges die Erfahrung der Flucht vor den vorrückenden Deutschen.
Auch das Ende der Kampfhandlungen bedeutete keinesfalls die Rückkehr in die Normalität, denn die Kriegsfolgen waren auch jenseits der physischen Zerstörungen zu spüren: Die auffällige Abwesenheit junger Männer, die entweder gefallen oder in Kriegsgefangenschaft waren, fern der Heimat Zwangsarbeit leisten mussten oder als vermisst galten, die daraus resultierende Allzuständigkeit von Frauen bei der Aufrechterhaltung des privaten und öffentlichen Lebens, die Furcht vor sexuellen Übergriffen durch deutsche Soldaten. Sexuelle Gewalt, so zeigt Tönsmeyer, war weit verbreitet. Sie zitiert einen Augenzeugenbericht aus der Zeit kurz nach dem deutschen Einmarsch in Riga: "In dieser ersten Nacht des Besatzungsregimes veranstalteten die Offiziere . . . ein Saufgelage. Zu dieser Orgie ließen sie sich einige Dutzend jüdischer Mädchen kommen, zwangen sie, sich völlig zu entkleiden, zu tanzen und zu singen. Viele der Unglücklichen wurden vergewaltigt, danach auf den Hof geführt und erschossen."
Auch unterhalb der Ebene von Kapitalverbrechen wie Mord und Vergewaltigung zeigt das Buch die vielen Lasten der Besatzung von der sich rapide verschlechternden Versorgungslage bis hin zur enormen Verknappung von Wohnraum und die Indienstnahme von Millionen von Menschen im Rahmen von Arbeitspflicht und Zwangsarbeit. Das hierarchisch strukturierte Alltagsleben zeigte sich aber auch in scheinbar banaleren Situationen, einer Flut an Verordnungen und Verboten der Besatzer, die oft auch für kleinste Übertretungen empfindliche Strafen verhängten.
In einem Buch über Besatzungsgesellschaften bleiben auch die stark politisierten Themen "Widerstand" und "Kollaboration" nicht aus. Schon seit Langem wird in der historischen Forschung betont, dass die in den ersten Jahrzehnten nach 1945 dominante Erzählung von den quasi nur aus Widerstandskämpfern bestehenden Besatzungsgesellschaften ein Verfahren war, das Problem der weit verbreiteten Zusammenarbeit mit den Besatzern auszublenden. Tönsmeyer beschreibt die Kollaboration mit den Deutschen als Spektrum, das von Denunziationen bis Mordaktionen an Juden reichte, die etwa im Baltikum oder in der Ukraine von lokalen Nationalisten der vormaligen Unterstützung sowjetischer Besatzungsregime bezichtigt wurden. Viele feierten nach dem deutschen Einmarsch das Ende des "Judeobolschewismus", zwangen Juden, die Internationale zu singen, mit Stalinporträts durch die Straßen zu marschieren oder sowjetische Monumente zu zerstören.
Die Darstellung wirft allerdings eine Frage auf, die mit einem auf das deutsch besetzte Europa fokussierten Buch nur bedingt beantwortet werden kann: Was genau - außer der Schoa - war das Besondere an der Alltagserfahrung nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft, etwa im Vergleich zu Okkupationspraktiken anderer diktatorischer Regime wie der Sowjetunion oder zu den Erfahrungen von chinesischen und koreanischen Zivilisten unter japanischer Besatzung?
Liest man Aviel Roshwalds 2023 erschienenes Buch "Occupied", in dem neben den deutschen und italienischen Besatzungsregimen in Europa auch die japanische Herrschaft in Asien in den Blick genommen wird, verschwimmen jenseits des Holocausts die Unterschiede. Auch in Asien überstieg die Zahl der im Zweiten Weltkrieg getöteten Zivilisten die der gefallenen Kombattanten deutlich. Von den - konservativ geschätzt - 25 Millionen asiatischen Weltkriegstoten waren 19 Millionen Zivilisten, die meisten von ihnen Chinesen. Auch hier waren die Besatzungsgesellschaften durch physische Gewalt, Zwangsprostitution, permanente Angst, strikte Hierarchien und Mangelwirtschaft geprägt.
Die Frage nach der Vergleichbarkeit stellt sich auch angesichts der Rückkehr von Gewalt und Besatzung in Europa infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, handelt das Buch von einer Vergangenheit, die in Teilen heute die Lebenswirklichkeit vieler Menschen in der Ukraine abbildet. Insofern ist Tönsmeyers Buch auch eine Erinnerung daran, was möglich ist, wenn eine Besatzungsmacht sich nicht an rechtliche, moralische und humanitäre Standards gebunden fühlt. ROBERT GERWARTH
Tatjana Tönsmeyer: "Unter deutscher Besatzung". Europa 1939-1945.
Verlag C. H. Beck, München 2024.
652 S., Abb., geb.
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