Besprechung vom 09.10.2020
Dieser Fluss ist hart umkämpft
Von der Mündung bis zu den Quellen: Terje Tvedt zeichnet die Geschichte des Nils in einem gelehrten Reisebuch nach.
Als der römische Feldherr und Politiker Julius Cäsar zum ersten Mal in Ägypten den Nil erblickte, soll er gefragt haben, wo all das Wasser herkomme, das jeden Sommer, gerade wenn es am heißesten und trockensten war, aus der Wüste heranströmte und eine der fruchtbarsten Gegenden erschuf. Noch im europäischen Spätmittelalter war das Rätsel des Flusses von mythischen Vorstellungen geprägt, die etwa besagten, der Nil ströme direkt aus dem Paradies sowie über eine Treppe aus goldenen Stufen. In seinem neuen Buch beschreibt der norwegische Geograph und Historiker Terje Tvedt, wie dem Nil seither Stück für Stück seine Geheimnisse entrissen wurden. Und wer immer den Fluss in der Folge kontrollierte, zeigt er, besaß Macht. Daher werde der Kampf um seine Nutzung Afrika und die Welt insgesamt auch in der Zukunft und wahrscheinlich mehr denn je prägen.
Seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts setzten intensive Vermessungen des Nils durch europäische Geographen, Hydrologen und Wasserbauingenieure ein, die sich eng mit dem kolonialen Projekt verknüpften. Skrupellose "Entdecker" wie Henry Morton Stanley machten sich auf, die Quellen des Nils zu suchen und die Gebiete auf dem Weg dorthin für die europäische Fremdherrschaft zu sichern. Unter dem ägyptischen Herrscher Muhammad Ali Pascha war bereits in den Jahren nach 1818 unter massiver Nutzung von Zwangsarbeit im Norden des Nildeltas ein Damm angelegt worden, durch den der Wasserstand in Flüssen und Kanälen anstieg, so dass an vielen Orten das ganze Jahr hindurch Landwirtschaft betrieben werden konnte.
Der Bau oder zumindest die Planung von Staudämmen, den "Pyramiden der Moderne", bestimmte auch im folgenden Jahrhundert die Geschichte des Flusses, aber bis vor kurzem war der größte Teil des Gewässers naturbelassen und ungezähmt und entzog sich der Kontrolle. Seit der Jahrtausendwende jedoch suchen die meisten Anrainerstaaten von Ägypten bis Ruanda den Nil plötzlich mit großem Eifer zu messen, zu regulieren und sich dienstbar zu machen. Zahlreiche Projekte zur Stromgewinnung und Bewässerung erblickten das Licht der Welt. Zuletzt nahm die äthiopische Regierung den Bau einer riesigen Talsperre am Blauen Nil in Angriff, die das Land in das "Kraftwerk" des östlichen Afrikas verwandeln und es elektrifizieren und einigen soll. Aber auch Länder, die wie Tansania in der allgemeinen Wahrnehmung wenig mit dem Nil assoziiert werden, entwickeln sich derzeit zu wichtigen Akteuren in der "Nil-Diplomatie", dem komplexen Austarieren der Nutzungsrechte am Wasser.
Tvedt, ausgewiesener Kenner des Nils und darüber hinaus Autor zahlreicher Werke über die Geschichte des Wassers, hat eine faszinierende und informative Biographie des wohl längsten Flusses der Erde von der prähistorischen Zeit bis in die unmittelbare Gegenwart vorgelegt. Sein Buch ist eine Art gelehrtes historisches Reisebuch, mit Tvedt als kenntnisreichem, gelegentlich ein wenig geschwätzigem Reiseleiter, der gern abschweift, sich ab und zu wiederholt, bisweilen irritierende Interpretationen liefert - und dem man trotzdem bis zum Ende zuhören möchte. Seine Darstellung folgt dem Nil gleichsam flussaufwärts, von der Mündung bis zu den Quellen, und verbindet historische Analysen, philosophische Reflexionen und ökologische Erörterungen mit vielen aufschlussreichen Anekdoten und persönlichen Reiseeindrücken.
An einigen Stellen gelingt es Tvedt durch die systematische Einbeziehung "hydropolitischer" Aspekte, bekannten Ereignissen und Entwicklungen neue Perspektiven abzugewinnen, so etwa bezüglich der britischen Besatzung des Sudan Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Briten proklamierten diesen Feldzug als Rache für General Gordon, der einige Jahre zuvor von Anhängern des muslimischen Revolutionärs Muhammad Ahmad, dem Mahdi des Sudan, ermordet worden war, und propagierten ihn als Kampf zwischen Bibel und Koran. Dieser Deutung ist zuletzt noch Niall Ferguson gefolgt, als er die Schlacht auf dem Nil vor Orduman 1898 zwischen dem britischen Heer und islamischen Kämpfern mit dem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban zu Beginn des 21. Jahrhunderts verglich. Tvedt hingegen deutet diese Aktion zuvörderst "als Ergebnis einer kühlen und kalkulierenden imperialen Wasserpolitik". London ging es vor allen um die Kontrolle des Nils an einer strategisch bedeutsamen Stelle, aber mit diesem Argument hätte sich "die viktorianische Flamme der Empörung nicht so leicht entzündet", die britische Öffentlichkeit also nicht ausreichend mobilisiert werden können.
Zu den Teilnehmern der Sudan-Expedition gehörte auch Winston Churchill, der seinem berühmten zweibändigen Werk über den Feldzug den Titel "Der Flusskrieg" gab. Kein internationaler Staatsmann, konstatiert Tvedt, taucht häufiger in der neueren Geschichte des Nils auf als er. Im Jahr 1907 bereiste er als Staatssekretär im Kolonialministerium den gesamten Fluss und schrieb ein weiteres Buch darüber. Und Churchill lebte lange genug, um auch das vielleicht größte Desaster der Briten am Nil zu erleben, als nämlich Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser 1956 den Suezkanal verstaatlichen ließ, der britische militärische Gegenschlag in einem Fiasko endete und Londons Rolle als "Lord of the Nile" endgültig der Geschichte angehörte.
Churchill und Nasser sind Beispiele für das in Tvedts Buch versammelte umfassende, ganz überwiegend männliche Ensemble von bekannten und weniger bekannten Politikern, Militärs, Künstlern, Experten und Abenteurern, die alle die Geschichte des Nils prägten und vom Fluss geprägt wurden. Dazu zählen übliche Verdächtige wie Cleopatra, Napoleon, Gustave Flaubert, Nagib Machfus oder Haile Selassie, aber etwa auch die im nordatlantischen Raum weitgehend unbekannte große Sängerin Ägyptens und der arabischen Welt, Umm Kulthum, deren Lied Tahil-al-Nil eine Hymne auf den Assuan-Staudamm war. Und die Leser erfahren, dass der Norweger Mensen Ernst, einer der berühmtesten Langstreckenläufer seiner Zeit, 1843 versuchte, nur mit Gebäck und Marmelade als Proviant zu den Quellen des Nils zu laufen, aber nicht weiter als bis Assuan kam, wo ihn die Ruhr niederstreckte - die vielleicht am schlechtesten geplante Expedition aller Zeiten und ein gutes Beispiel für die menschliche Hybris, die in der langen Geschichte des Flusses eine markante Rolle spielte.
ANDREAS ECKERT
Terje Tvedt: "Der Nil".
Fluss der Geschichte.
Aus dem Norwegischen von A. Brunstermann, G. Haefs und N. H. Schulz. Christoph Links Verlag, Berlin 2020. 591 S., geb., Abb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Der Nil" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.