Besprechung vom 15.10.2022
Vor den Totentempeln der Natur
Der in den Fossilien zu lesen weiß: Thomas Halliday führt kundig und erzählerisch gekonnt durch Landschaften der Erdgeschichte.
Von Ulf von Rauchhaupt
Am Ende des Miozäns, vor 5,333 Millionen Jahren, hatte sich unsere Stammeslinie bereits von jener der Schimpansen abgespalten. Noch waren unsere Vorfahren allerdings behaart und ohne Steintechnologie, doch liefen sie bereits auf zwei Beinen durch die Waldsavannen Afrikas. Dabei werden einige von ihnen auch an den nördlichen Rand des Kontinentes gekommen sein, und dort bot sich ihnen ein für unsere Augen gespenstischer Anblick: Ein paar Tausend Jahre zuvor hatte die Plattentektonik die Straße von Gibraltar abgeklemmt und das Mittelmeer in eine staubtrockene, salzverkrustete Tiefebene mit bis zu 80 Grad Celsius Lufttemperatur verwandelt. Dann öffnete sich die Meerenge eines Tages wieder: Vier Monate lang flutete Atlantikwasser die Ebene, kam aber nur bis zu einer Landschwelle auf der Höhe von Malta; so lief zunächst nur das westliche Mittelmeer voll. Dann schwappte das Wasser südlich von Sizilien plötzlich über die Schwelle und stürzte auf nur fünf Kilometer Breite 1500 Meter in die Tiefe. Ein volles Jahr dauerte es, bis auch Griechenland und Ägypten wieder am Meer lagen. So lange dröhnte hier der gewaltigste Wasserfall der Erdgeschichte.
Thomas Hallidays "Urwelten" lässt im Kopf des Lesers ständig solche unglaublichen Bilder entstehen. Zumeist tummeln sich darin freilich Tiere, denn Halliday, Jahrgang 1989, ist Paläobiologe und forscht über die Evolution der Säugetiere, derzeit an der University of Birmingham. "Urwelten" ist indes keines jener Sachbücher, die üppig bebildert durch die Erdzeitalter eilen, unter besonderer Berücksichtigung cooler Riesenformen wie des bizarren kambrischen Räubers Anomalocaris, des gewaltigen Panzerfischs Dunkleosteus aus dem Devon oder des Tyrannosaurus rex aus der späten Kreide. Tatsächlich kommen T. rex und Anomalocaris nur am Rande vor - und Dunkleosteus überhaupt nicht. Denn was Thomas Halliday hier unternimmt, ist viel näher an klassischer Geschichtsschreibung und muss sich auch in puncto schriftstellerischer Brillanz vor den großen Autoren dieses Genres nicht verstecken - nur dass seine Texte nicht dem Drama des Peloponnesischen Krieges nachgehen oder der Frage, wie es zum Ersten Weltkrieg kam, sondern dem Werden und Vergehen ganzer Ökosysteme.
Dabei ist auch seine Darstellung im Prinzip chronologisch. Sechzehn Kapitel widmet er aufeinanderfolgenden Erdzeitaltern - allerdings in umgekehrter Richtung. Hallidays Reisebeschreibungen, so versteht er sie selbst, beginnen daher sozusagen vor unserer erdgeschichtlichen Haustür im eiszeitlichen Pleistozän vor 20 000 Jahren, in einer noch nicht allzu fremden Welt mit vergleichsweise vertrauten Tieren, etwa den Mammuts, deren letzte Population auf der Wrangelinsel vor Sibirien noch existierte, als in Ägypten die Pyramiden entstanden. Von dort geht es zurück in immer fernere, seltsamere Welten, bis in die fast außerirdisch anmutende Heimstatt der Ediacara-Fauna vor 550 Millionen Jahren.
Die Ediacara besucht Halliday in den Flinders Ranges in Südaustralien. Auch die Besichtigung der anderen Erdzeitalter geht von einem bestimmten Fossilienfundort aus, um dort dessen vergangene Flora und Fauna vor dem geistigen Auge des Lesers heraufzurufen. Diese Fundorte sind nicht immer die jeweils berühmtesten. So lernt der Leser die Welt des Kambriums nicht im 505 Millionen Jahre alten Burgess Shale im Westen Kanadas kennen, den Stephen Jay Gould - ein anderer sprachmächtiger Urzeitforscher - einst berühmt gemacht hatte, sondern in den rund zwanzig Millionen Jahre älteren Formationen im chinesischen Chengjiang, die von großer Bedeutung für die aktuelle Forschung sind. Und im Eozän geht es nicht etwa in die Grube Messel bei Darmstadt, sondern in die damals üppig bewaldete Antarktis. Die vielen Urzeitenthusiasten bestens bekannte Hell-Creek-Formation in Nordamerika schließlich wird nicht ihrer spätkreidezeitlichen Fundschichten wegen besucht, die uns große Teile des Bestiariums aus "Jurassic Park" überliefert haben. Vielmehr führt Halliday seine Leser dorthin, um ihnen die Welt des frühen Paläozäns zu zeigen, als sich das Leben nach dem Desaster des großen Asteroideneinschlages am Ende der Kreidezeit wieder zu erholen begann.
An all diesen Stationen liest Halliday aus den "biologischen Hieroglyphen" vor, wie er Fossilien nennt - ohne sein Publikum über Gebühr mit paläontologischen Methodenfragen zu behelligen, was man ihm aber angesichts der Materialmenge nachsehen sollte. Stattdessen erzählt er, lässt die Vergangenheit auferstehen wie ein guter Reiseführer vor den Trümmern eines altägyptischen Totentempels.
Doch dabei bleibt es nicht. Halliday zieht von der jeweils besichtigten Fossillagerstätte Verbindungen zu der betreffenden Epoche insgesamt, von dieser zu späteren, dem Leser bereits vorgestellten Zeitaltern - darum die inverse Chronologie - und von dort zu allgemeinen Prinzipien der Evolution, nicht nur der Tier- und Pflanzenarten, sondern ganzer Ökosysteme. Zwar ist "Urwelten" reich an Kuriosem, ob es nun das enigmatische Tullimonstrum aus dem Karbon ist oder eine miozäne Insel, auf der die Schwäne größer sind als die Elefanten. Trotzdem ist Halliday eben kein paläobiologischer Herodot. Überall zeigt er komplexe Zusammenhänge auf, auch solche, die uns heute betreffen, da wir selbst die Biosphäre so schnell verändern, wie kaum ein natürlicher Prozess es auf globaler Skala je vermochte - von dem Asteroideneinschlag am Ende der Kreidezeit einmal abgesehen.
In seinem Schlusskapitel gibt sich Halliday optimistisch. Die Menschheit werde ihre ökologischen Probleme in den Griff bekommen, meint er, sei sie doch in der Lage, die Probleme zu erkennen, zu verstehen und vorherzusehen. Trotzdem hat er kein Buch geschrieben, das Klimaaktivisten viel Freude machen dürfte. Denn seine Erdgeschichtsschreibung macht auch deutlich, welch extreme Veränderungen unser Planet schon erlebt hat - ja, erleben musste, um zu dem zu werden, als den wir ihn heute gerne erhalten würden - und dass der Mensch schon in vorindustrieller Zeit Einfluss auf die Biosphäre nahm.
"Vom Menschen verursachte Veränderungen sind nichts Neues und können weitgehend als natürlich angesehen werden", schreibt Halliday. Denn wir gehören selbst zum Reich des Lebendigen. Sicher, auch er ist für konsequenten Klimaschutz, "die Ökosysteme, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und vorher existierten, haben sich unwiderruflich verändert, aber die Schädigungen nehmen weiter zu. Je rascher und nachhaltiger wir handeln, desto überschaubarer wird der Schaden sein." Es sei nicht zu spät, die "Türme sind gefallen, aber die Kathedrale steht noch". Doch in Hallidays artigem Appell, es liege jetzt an uns, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen, klingt ein elegischer Ton an. Vielleicht hat er einfach schon zu viele Kathedralen gesehen, aus denen schließlich Totentempel wurden.
Thomas Halliday: "Urwelten". Eine Reise durch die ausgestorbenen Ökosysteme der Erdgeschichte.
Aus dem Englischen von Hainer Kober. Hanser Verlag, München 2022. 464 S., Abb., geb.
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