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Besprechung vom 08.03.2020
Der Mythos vom Verdienst
Thomas Piketty über die Ungleichheit
Im Titel "Kapital und Ideologie" fasst der französische Ökonom Thomas Piketty nicht nur sein Thema zusammen: Er deutet damit auch an, auf eine Weise, die einen schwindelig machen kann, dass er mit seinem Buch nicht nur eine Analyse des Kapitals und des Kapitalismus, sondern auch ein Programm zu dessen Neu- oder Umgestaltung vorlegen will.
Piketty arbeitet mit einem positiven Begriff von Ideologie. Ideologien sind für ihn "mehr oder weniger schlüssige Versuche, Antworten auf eine Reihe extrem weit gefasster Fragen zu geben, die um die erstrebenswerte oder ideale Organisation der Gesellschaft kreisen", schreibt er. Da es sich nicht von selbst versteht, muss man aber hinzufügen, dass natürlich, angesichts der Komplexität der Fragen nach dem Eigentum, nach Steuern oder dem Zugang zu Bildung und Gesundheit, keine Ideologie je eine angemessene und erschöpfende Antwort bieten wird. Dass Konflikte und Meinungsverschiedenheiten also aus dem Inneren der Ideologien selbst stammen.
Dennoch müsse, meint Piketty, jede Gesellschaft um diese Antworten ringen. Und grundsätzlich fühle sich auch jeder Einzelne aufgerufen, sich eine Meinung zu den fundamentalen und existenziellen Fragen der Gesellschaft zu bilden, wie unbestimmt und unzulänglich die auch sei. Und weil in einer hochgradig arbeitsteilig organisierten Gesellschaft wirklich nicht mehr jede und jeder alles wissen kann, ist die Orientierung in allen Gebieten, in denen man kein Spezialist ist, für Piketty immer ideologisch - und erst mal kein Problem. Damit wendet sich Piketty natürlich auch gegen die nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in den 1990er Jahren virulent gewordene Parole vom "Ende der Ideologien".
Piketty weiß aber auch, dass der anklagende Gebrauch des Ideologiebegriffs gerechtfertigt sein kann, wenn man damit eine dogmatische Sichtweise benennt, die den Tatsachen nicht ausreichend Rechnung trägt. Auch deshalb ist sein Buch ausgesprochen faktenbezogen und bedient sich neben der französischen Sprache, in der Piketty das Orginal geschrieben hat, auch der Sprachen der Mathematik und der Statistik. Und bei der Betrachtung zum Beispiel der Anteile der oberen und der unteren zehn Prozent am Gesamteinkommen in der amerikanischen Gesellschaft stellt Piketty eine "Wiederkehr der Ungleichheiten" fest, die er zu den beunruhigendsten strukturellen Umwälzungen zählt, mit denen die Welt aktuell konfrontiert ist.
Beunruhigend findet Piketty nicht nur die sogenannte Einkommensschere, die sich in allen entwickelten Ländern seit den 1980er - und in den ehemals kommunistischen Ländern seit den 1990er - Jahren beobachten lässt, sondern auch, dass sie von einer "neuen ultra-inegalitären Erzählung" begleitet wird. Einer Erzählung, die die Ungleichheit einerseits naturalisisert und andererseits in eine Leistungsfeier münden lässt, wonach exorbitante Managergehälte eben nur Leistungswillen und -fähigkeit belohnen. Für Piketty, mal abgesehen davon, dass er die Rede von Belohnung der Leistung im Spitzenlohn für Heuchelei hält, folgen aus der Behauptung, die bestehende Ungleichheit sei unabwendbar, die meisten Übel der Gegenwart. Denn wenn man die Menschen glauben mache, dass es keine Alternative zum Bestehenden gäbe, dann sei es kein Wunder, "dass alle Hoffnung auf Veränderung sich auf die Feier der Grenze und der Identität verlagert".
Dabei ist Piketty vollkommen klar, dass die Ungleichheitserzählung erfolgreich und zu Recht vom Desaster der kommunistischen Regime zehren kann. Wahrscheinlich auch deshalb grenzt er sich methodisch bewusst von "marxistischen" Lehrmeinungen ab, wonach der ideologische Überbau nachgerade mechanisch vom Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse abhängt.
Dagegen beharrt Piketty auf einer genuinen Autonomie der Ideen, also der ideologisch politischen Sphäre. Woraus auch folgt, dass die gegenwärtigen ökonomischen Verhältnisse durchaus anders politisch und ideologisch organisiert sein könnten. Im Grunde dient der gesamte historische Teil, in dem Piketty die geschichtlichen Stationen von der Dreiständegesellschaft über die Eigentumsgesellschaften nach der französischen Revolution bis zum modernen Kapitalismus untersucht, der Untermauerung seiner These, dass gleiche oder nur vergleichbare ökonomische Verhältnisse immer schon unterschiedliche politische und ideologische Regime hervorgebracht haben oder zumindest hervorbringen könnten.
Den aktuellen Kapitalismus sieht er in einer neo-proprietaristischen Phase, einer Phase, in der die ständige Ausweitung des Privateigentums und die Akkumulation von Vermögenswerten über traditionelle Besitzformen und alte Staatsgrenzen hinaus wächst. Proprietarismus ist eine zwar holprige, aber sinnvolle Begriffsschöpfung Pikettys. Entwickelt hat sich der Proprietarismus als Ideologie in ländlichen Gegenden, also deutlich früher als die Großindustrie und das internationale Finanzwesen. Der Proprietarismus entsteht in noch größtenteils vorindustriellen Gesellschaften als Überwindung der Ständegesellschaft durch die Fähigkeit des neu organisierten Zentralstaats, die hoheitlichen Funktionen und den allgemeinen Schutz des Eigentumsrechts zu übernehmen. Eigentum wird vom Staat garantiert und geregelt. Das Zusammenspiel von zentralisiertem Staat und Eigentum ist der Knackpunkt von Pikettys Untersuchung.
Jedes Ungleichheitsregime, jede Ungleichheitsideologie beruht, vereinfacht gesprochen, auf einer Theorie der Grenze und einer Theorie des Eigentums. Jedes Regime muss die Ungleichheit rechtfertigen, muss eine Erklärung vorlegen, warum die Ungleichheit gut fürs Ganze ist. Piketty sieht in diesen, oft sehr spezifischen Erklärungen nicht bloß Heucheleien und Lügen, sondern immer auch Versuche, die widerstreitenden Kräfte und Kosten einer Gesellschaft in einen Ausgleich zu bringen. Deshalb ist er auch weit entfernt davon, Ständegesellschaft oder Eigentumsgesellschaft als überholt zu bezeichnen. Er glaubt, dass man, zum Beispiel bei der Betrachtung der Kleiderordnung in höfischen Gesellschaften, lernen kann, dass es sich hier nicht um starre Strukturen handelt, sondern um ausgehandelte Verfahren, die aber ihrerseits wieder strukturierend für kommende Ereignisse wirken.
Strukturen sind für Piketty nie "genetisch", sondern immer gemacht und ausgehandelt, nur leider nicht selten in unbeachtet und unerforscht gebliebenen Vergangenheiten. So haben die Fragen der politischen Ordnung und der Eigentumsordnung tatsächlich nie aufgehört, unauflöslich miteinander verknüpft zu sein. Von den Sklavenhaltergesellschaften und Ständeordnungen über die Eigentümergesellschaften bis zu kommunistischen und sozialdemokratischen Gesellschaften. Wobei sich letztere, die Piketty im Zeitraum von 1950 bis 1980 vor allem in West-Europa und den Vereinigten Staaten verortet, als Reaktion auf die von den Eigentümergesellschaften gezeitigten Ungleichheits- und Identitätskrisen herausgebildet haben. Den Markt und den Wettbewerb als solchen gibt es für Piketty so wenig, wie es Gewinn und Lohn, Kapital und Schulden, hochqualifizierte und geringqualifizierte Arbeiter, Einheimische und Fremde, Steuerparadiese und Wettbewerbsfähigkeit als solche gibt.
All das sind soziale und historische Konstruktionen, "die durch und durch nicht nur davon abhängen, welches Rechts-, Steuer-, Bildungs- und Politiksystem man in Kraft zu setzen beschließt, sondern auch von den Begriffen, die man sich davon macht". Und genau um die Begriffe geht es ihm, wenn er etwa die Entwicklung der Spitzensteuersätze in den entwickelten Ländern anschaut.
Bei der Einkommensteuer lag der Spitzensatz in den Vereinigten Staaten zum Beispiel zwischen 1932 bis 1980 im Durchschnitt bei 81 Prozent, in Großbritannien bei 89 Prozent, gegenüber 58 Prozent in Deutschland und 60 Prozent in Frankreich. Ganz offenbar haben diese Steuersätze jenseits der 80 Prozent, nicht zur Zerstörung des Kapitalismus der Vereinigten Staaten geführt. Ims Gegenteil: Die Produktivität in den Vereingten Staaten war damals höher als in den Jahren nach 1980, in denen in den Vereinigten Staaten der Spitzensatz zwischen 30 und 40 Prozent schwankte. Piketty möchte mit dieser Vorführung der Zahlen nicht behaupten, dass höhere Steuern zu höherer Produktivität führen. Er zeigt nur, das höhere Steuern keine Widerspruch zur Produktivität sein müssen, wie das andauernd zu hören ist.
Und Piketty weiß natürlich auch, dass die bisher einmalige Phase der relativ gleichen Verteilung von Eigentum, Bildung und Zugang zu Aufstiegsmöglichkeiten in den Jahren der sozialdemokatischen Gesellschaften von 1950 bis 1980 genau deshalb endete: weil alles in Ordnung war. Seine Analyse des Scheitern der sozialdemokratischen Bildungskonzepte und -politik ist schmerzhaft genau; er will nur ein Tor öffnen für ein neues Gleichheitskonzept, das konkrete Sofortveränderungen im Steuersystem wie in der Bildungspolitik für nicht unmöglich erklärt.
Denn eine gerechte Gesellschaft organisiert soziale und wirtschaftliche Beziehungen, Eigentumsverhältnisse, Einkommens- und Vermögensverteilung derart, dass sie ihren am wenigsten begünstigten Mitgliedern die bestmöglichen Existenzbedingungen bietet. Damit schließt sie Gleichförmigkeit so wenig ein wie absolute Gleichheit.
CORD RIECHELMANN
Thomas Piketty: Kapital und Ideologie. Verlag C. H. Beck, 1312 Seiten
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