Besprechung vom 12.10.2024
Wie die Adoptivmutter zum Erdgeschoss des Lebens wird
Elternbereitschaft von unterschiedlichem Grad: Ulrike Draesners bewegende Erzählung über die Adoption eines Kindes in Sri Lanka.
Von Melanie Mühl
Von Melanie Mühl
Die Schriftstellerin Ulrike Draesner ist es nach vier Fehlgeburten leid gewesen, die Mutterschaft ihrem Körper sowie dem Zufall zu überlassen, und hat ein Kind adoptiert. Ein drei Jahre altes fremdes Mädchen aus Sri Lanka - Mary. Von diesem Wagnis erzählt sie in ihrem Buch "Zu lieben", dessen durchgestrichene Gattungsbezeichnung Roman den Leser schon beim Blick aufs Cover ermutigen soll, sich seine eigenen Gedanken zur Wahrhaftigkeit des Geschriebenen zu machen. In der Rückschau legt sich über das Erlebte stets ein Schleier, der mal mehr, mal weniger verbirgt. Die Erinnerung ist trügerisch; zumal wenn sie zur dramaturgisch inszenierten Geschichte mit literarischem Anspruch wird. Draesner kam beim Schreiben also nicht umhin, ihre Geschichte zu straffen, Geschehenes wegzulassen und Neues zu erfinden. Wie groß die Schnittmenge zwischen Ulrike Draesner und der Erzählerin ist, weiß nur die Autorin selbst.
Die Erzählerin und ihr Mann Hunter jedenfalls reisen nach Jahren des Wartens und Hoffens auf ein Kind nach Colombo, in diese stickig heiße Stadt, in der die kleine Mary in einem Kinderheim lebt. Sie kommen bei Heidi unter, einer geschäftigen, mäßig sympathischen Adoptionsvermittlerin, die selbst weder Kinder hat noch je Kinder wollte. Der Prozess des Elternwerdens ist freilich keine Angelegenheit von Stunden, sondern von Wochen, an deren Ende ein alles entscheidender Gerichtstermin steht. Das Paar und Mary, so sieht es das Prozedere vor, sollen einander langsam und behutsam kennenlernen. Erlebnisse teilen. Eine "Bindung" aufbauen. Man könnte auch sagen: ein schüchternes "lieben lernen", zumindest in seinen Anfängen. Doch Mary, ein stures Kind, das um eine Erlösung durch weiße Mittelschichtseltern aus Deutschland nicht gebeten hat, verhält sich abweisend. Für diese Enttäuschung findet Draesner nüchterne Worte: "Da kam man mit seiner Elternbereitschaft an, und beim Kind fehlte sie." Dabei ist dieses Buch alles andere als nüchtern. Pathetisch formuliert: Es rührt das Herz.
Draesner schildert eindrücklich das Bangen des Paares, sein Buhlen um die Zuneigung des Kindes mithilfe von Geschenken, Spielen und Ausflügen. Die Gedankenstürme, die im Kopf des Kindes toben, mag man sich kaum ausmalen. Marys Hand halten: Anfangs darf das weder die Erzählerin noch ihr Mann. "Die Helferinnen beobachten unseren Nicht-Fortschritt mit Mary. Sie sehen unsere Not. Am Montag eilen zwei von ihnen mit listigem Gesicht auf uns zu. Genauer auf mich. Die Helferin, die Mary trägt, drückt mir ohne Ankündigung das Kind in den Arm. Mary brüllt, zappelt, ich will loslassen, höre 'give husband', drehe mich um, da ist Hunter, ich drücke sie ihm in den Arm, sie brüllt weiter, er setzt sie ab, sie rennt weg." Mary, der Eisblock. Als sie schließlich doch auftaut, ist es Hunter, den sie erwählt. Er darf ihre Hand nehmen, sie halten, ihr körperlich nah sein. Die Erzählerin darf das erst einmal nicht, und der Ehe, die zu diesem Zeitpunkt bereits erkaltet ist, versetzt das einen weiteren Schlag.
Während ein neuer Mensch in Ulrike Draesners Leben kommt, schleicht sich ein anderer aus ihm fort. Diese Entfremdungsgeschichte ist der traurige Unterton der Liebeserklärung, die Draesner mit diesem Buch ihrer Tochter geschenkt hat. In Colombo ist das Paar "bestenfalls als Bruder und Schwester unterwegs". Später wird die Ehe zerbrechen und Hunter mit einer deutlich jüngeren Frau ein Kind bekommen.
"Zu lieben" verhandelt die großen Fragen: Was ist Mutterschaft? Was ist eine Familie? Wie geht lieben? Wie schwer wiegt Herkunft (Stichwort Epigenetik)? Niemand kommt als unbeschriebenes Blatt auf die Welt. Und hinter Mary, der Fremden, liegen drei Jahre Heimerfahrung. Von dem dort Erlebten und Ertragenem wissen die neuen Eltern nicht das Geringste.
Die Erzählerin, die man an dieser Stelle mit der Autorin gleichsetzen kann, muss erkennen, dass sie trotz aller Aufgeklärtheit und eines vermeintlich kosmopolitischen Blickes in einer Privilegiertenblase lebt. Wie engstirnig, wie phantasielos unsere Gesellschaft bei dem, was Familie betrifft, oft ist, zeigen die geschilderten Berliner Szenen. Ein weißes Paar mit einem dunklen Kind erregt Aufsehen und ermutigt offenbar zu Grenzüberschreitungen. Dreiste Fragen zu Marys Herkunft musste sich Draesner jedenfalls viele stellen lassen. Von den unverschämten Blicken ganz zu schweigen.
In Berlin kostet die Tochter ihre Eltern alle Kraft. Heimerprobt und liebesvernachlässigt, stößt sich Mary, die kein Körpergefühl hat, an jeder Ecke und Kante. Sie taumelt. Zucker schüttet sie löffelweise in sich hinein. Gemüse verschmäht sie vehement. Der Erzählerin folgt Mary auf Schritt und Tritt, steht neben ihr, wenn sie auf die Toilette geht, ein Schatten, getrieben von Verlustängsten. Emotional im Stich gelassene Kinder bewegen sich ein Leben lang auf abschüssigem Grund. Es sind mitunter schmerzhafte Passagen - doch dann geschehen immer wieder kleine Gefühlswunder. Einmal malt Mary ein Bild, ein Haus mit Menschen. Sie geht zu ihrer Mutter, die gerade Grießpudding kocht und sagt: "Mama, du bist mein Erdgeschoss."
Ulrike Draesner, Sprachkünstlerin und mit dem Talent ausgestattet, Sätze zum Klingen zu bringen, hat ein Buch geschrieben, das nachhallt, aufwühlt, froh macht. Was kann einer Schriftstellerin Besseres gelingen?
Ulrike Draesner:
"Zu lieben".
Penguin Verlag,
München 2024.
352 S., geb.
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